Wälzen und Wälzen

Wälzen und Wälzen

Uli Hoeneß spricht: über Spielsucht, Steuerhinterziehen und von sich in der Mehrzahl. Ebenfalls mehrfach: Horst Tappert, den es nun auch als Waffen-SS-Mann gibt.

Trending Topic im Reich des Analogen eindeutig: #multiplePersönlichkeit. Die alte Überzeugung individuellster Individualität, der Glaubensgrundsatz, dass es nur ein'n Rudi Völler gebe, scheint ausgedient zu haben.

Beispiel Horst Tappert. Christian Schröder schreibt im Tagesspiegel angesichts der Entdeckung, dass der "Derrick"-Darsteller über sein Dienen in der Waffen-SS geschwiegen hatte und mit Blick auf Tapperts Autobiografie:

"Das Buch trägt den Untertitel 'Meine zwei Leben'. Richtiger wäre: 'Meine drei Leben'. Denn insgeheim hatte der spätere Fernsehstar eine weitere Existenz geführt, als Grenadier der SS-Division 'Totenkopf', die er nach dem Krieg beschwieg. Wohl aus Scham."

Klingt jetzt nicht wie der Abschnitt eines Lebens, sondern eher wie die Filiale einer Persönlichkeit, die als stickiger Sweatshop ohne Firmenschild in irgendeinem Untergeschoss des Horst-Tappert-Daseins über 1945 hinaus betrieben wurde. Aber wir wissen, was gemeint ist. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang der Kommentar von TSP-Leser "StolzwieBolle" unter Schröders Text:

"Jetzt, wo er im Grab liegt, möchte ich über ihn erst wieder was lesen, falls ihm tatsächlich eine Beteiligung an Kriegsverbrechen nachgewiesen werden können sollte."

Denn schöner kann man das Leben im permanenten Shitstorm des Medialen nicht abbilden, in dem einem dann eben auch Floskeln und Sprechblasen zufliegen, die man nicht mehr loskriegt von der eigenen Sprache: Wie StolzwieBolle hier das Standardgerede aus jedem öffentlich diskutierten Skandal unserer Tage in Sport, Politik oder wo auch immer appliziert auf einen riesigen schuldhaften Komplex wie die Nazi-Zeit, ist faszinierend. Die winkeladvokathafte Formel von heute ("bis tatsächlich eine Beteiligung nachgewiesen ist"), die, geschult von Juristen und Medienberatern, die Idee des Einzelfalls zum Rückzugsort persönlicher Verstrickung gemacht, wirkt fehl am Platz, wo man schon davon ausgehen könnte, dass die Waffen-SS nicht die Heilsarmee war und der Ausflug nach Russland kein Incentive zur Kommunikationsoptimierung. Und wo es auch eher um eine Verwunderung über das Schweigen geht, die Unfähigkeit wenigstens zu Bedauern, mit der Tappert nicht alleine ist.

Verwundert ist auch das ZDF. Michael Hanfeld schreibt in der FAZ (Seite 35):

"'Das ZDF', sagte ein Sendersprecher auf Anfrage dieser Zeitung, „ist von der Nachricht, dass Horst Tappert Mitglied der Waffen-SS war, überrascht und befremdet. Wiederholungen von 'Derrick'-Folgen sind nicht geplant."

Was schade ist: Ich würde, wie in einem Text im Freitag geschrieben, gerade die Ausstrahlung der frühen Derrick-Folge "Paddenberg" vorschlagen, in der es rarerweise und immer noch verschwurbelt um die Schuld aus der deutschen Vergangenheit geht.

[+++] Auf drei Leben bringt es mittlerweile auch Uli Hoeneß, wie er 61-jährig nun im Interview mit der beliebten "Kuschelzeitung" Die Zeit ausgerechnet hat:

"Hoeneß: Es gibt zwei Uli Hoeneß, eigentlich drei. Einer ist der seriöse, konservative Geschäftsmann, beim FC Bayern, bei unserer Wurstfabrik. Der zweite Uli Hoeneß ist auch privat sehr konservativ, nur klassische Geldanlagen, wenn Aktien, dann halte ich sie mindestens drei bis zehn Jahre. Dieser Uli Hoeneß ist wie Warren Buffett, er denkt langfristig und strategisch. Und dann gibt es den dritten Uli Hoeneß ...

ZEIT: ... den für die Öffentlichkeit neuen Uli Hoeneß ...

Hoeneß: ... der dem Kick nachgejagt ist, der ins große Risiko ging. Vielleicht steckt dahinter auch die Sehnsucht, die Wirklichkeit zu vergessen, auszubrechen. Das geht an der Börse gut."

Am Rande interessant ist, dass es sich bei "Uli Hoeneß", sprachlich gesehen, um ein Pluraletantum zu handeln scheint, ein Substantiv, das nur in der Mehrzahl geläufig ist, dass paraxdoxerweise aber wie ein Singular gebildet wird: Eigentlich müssten wir im Lichte dieses Wissens doch vom Bayern-Präsident Uli Hoenesse reden.

Aber das sind Fragen, mit denen sollen Leute wie Prof. Eisenberg sich rumschlagen. Uns interessiert hier das Mediale, und da kann man natürlich nicht so launig von einem Gespräch schreiben, das doch eigentlich der heißeste Scheiß des Tages ist: Uli Hoeneß spricht also erstmals seit Beginn seiner Steuerhinterziehungsbekanntwerdung öffentlich (hier der Vorgucker).

Dass er sich die Kuschel-Zeit dafür ausgesucht hat, liegt nahe: Hier hat das öffentliche Beichten der Post-Tappert-Years eine gewisse Tradition.

Getitelt wird mit dem für die große Konsensmaschine Zeit symptomatischsten aller Sätze:

"Ich gehöre nicht mehr dazu"

Im Text ist dies die Antwort auf die Frage, wie sehr Hoeneß leide:

"Das ist für mich ein ganz großes Problem. Ich fühlte mich in diesen Tagen auf die andere Seite der Gesellschaft katapultiert, ich gehöre nicht mehr dazu."

Die andere Seite der Gesellschaft – interessanter Denkansatz. Ob Hoeneß hier tatsächlich schon angekommen ist beziehungsweise jemals ankommen wird – schwer zu sagen.

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Ansonsten ist das Gespräch vom redundanten Unverständnis der Interviewer geprägt, wie das sein kann mit dem dritten, für uns neuen Uli Hoeneß. "Derrick"-Erfinder und Waffen-SS-Mann Herbert Reinecker hätte da vermutlich etwas vom "Abgrund" gemurmelt, der in jedem von uns lauere.

Schön ist am Gespräch, dass es plastisch ist.

"Es ist eine Situation, die kaum auszuhalten ist. Ich schlafe sehr schlecht, ich schwitze sehr viel in der Nacht, was ich eigentlich gar nicht kenne. Ich wälze mich und wälze mich. Und dann wälze ich mich nochmal. Und denke nach, denke nach und verzweifle. Ich bin morgens auch manchmal schon eine Stunde nach dem Aufstehen völlig fertig."

Das Drehbuch für den Film, der daraus werden wird, liegt als erstes Exposé schon vor. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann Nico Hofmann, der große Konsensproduzent unter Deutschlands Produzenten, mit der Nachricht aufwarten wird, dass Teamworx die Leben der Uli Hoenesse verfilmen wird.

Für Script/Continuity empfiehlt sich weiterhin Wolfgang Michal auf Carta, der am Tag der Arbeit zum zweiten Mal upgedated hat. Durch den Move der Zeit (Hamburg) kommt die Nord-Süd-Gefälle-These etwas ins Rutschen. Festzuhalten bleibt aber:

"Hoeneß’ Strategie läuft nun offenbar darauf hinaus, auf Schuldunfähigkeit wegen Spielsucht zu plädieren und das Menschliche, Allzumenschliche in den Vordergrund zu rücken."

Darüberhinaus verliert Michal drohende Logikfehler in der Handlung nicht aus dem Blick:

"Die Logik, warum Dreyfus seinem Freund einfach so 20 Millionen Mark zum Zocken gegeben haben soll, obwohl Hoeneß nach eigenen Angaben durch das Platzen der Internetblase gerade viel Geld verloren hatte, erschließt sich zwar noch immer nicht (und auch nicht das Rätsel der nummerngleichen Vontobel-Konten), aber… sind wir nicht alle kleine Sünderlein, haben wir nicht alle irgendwelche Süchte?"

Nur mit der Besetzung sind wir noch nicht so weit.


Altpapierkorb

+++ Ebenfalls auf Carta präzisiert Frank Lübberding via Crosspost die Medienlandschaftsskizze (Altpapier vom Dienstag), die sich aus der NSU-Prozess-Lotterie ablesen lässt: "Das überwältigende Interesse selbst von Regionalzeitungen und Anzeigenblättern passt nicht in die Medienkrise. Man spart in allen Redaktionen an jeder Ecke – und trotzdem sind alle jetzt bereit, für diesen einen Prozess ungeahnte Finanzmittel zu mobilisieren? Ein Lübecker Journalist, der über Monate aus München berichtet? Natürlich ist das nicht der Grund, sondern das missglückte Anreizsystem des OLG München. Jeder Verlag handelte völlig rational, wenn er wirklich jedes Medienangebot in seinem Unternehmen nutzte, um ein Los mehr in der Lostrommel des OLG zu haben." +++ Lübberdings Gedanke konkreter im ebenfalls bei Carta crossgeposteten Eintrag von Martin Niewendick zur Brigitte-Häme: "Man kann dem Magazin einiges vorwerfen. Aber doch nicht, dass es in einem transparenten Losverfahren gewonnen hat." Was es eben hat, um G+Js Chancen für den Stern zu erhöhen. Mit dieser Sicht lassen sich die Ergebnisse vom Montag noch einmal anders sportreporterhaft ablesen: "Üppigstes Losglück hatte indes die Südwestdeutsche Medienholding SWMH. Zu dem Unternehmen gehören die 'Stuttgarter Zeitung', 'Stuttgarter Nachrichten Sonntag aktuell', das 'Freie Wort" in Suhl und das 'SZ-Magazin' der 'Süddeutschen Zeitung' – so ist die SWMH im Einzelnen und insgesamt bestens vertreten." Schreibt Michael Hanfeld in der FAZ. Beklagte die FAZ am Dienstag den fehlenden Subtopf "Überregionale Zeitungen", so stellt sich nun heraus, dass sie eigentlich in einen Topf mit der TAZ und dem ND gehört hätte, der Ein-Zeitungs-Verlage hätte lauten müssen. +++ Katrin Truscheit beschreibt in der FAZ auf Seite 2 unter der schönen Überschrift "Das Würdelosverfahren" den Ablauf noch einmal: "Das OLG nahm die Präsentation der Losplätze offenbar nicht mit dem Ernst und dem Anstand vor, die dem Anlass gebührend gewesen wären: Da fielen Sätze der OLG-Sprecher wie: 'Gleich werden Sie erfahren, wer drin ist und wer draußen!' Oder: 'Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen!', 'Jetzt ist es so weit!'. Und stolz lächelnd zeigte Karl Huber auf die Plastikboxen, als ob es um eine Tombola beim Sommerfest ginge." +++ Und Hanfeld hat auf Seite 35 mit Schicksalsgenossin Ines Pohl von der TAZ gesprochen: "Wenn wir keinen anderen Weg finden, dem Prozess regelmäßig beizuwohnen, werden wir aller Voraussicht nach klagen." Sagt die TAZ-Chefredakteurin. +++ FAZ und Zeit haben sich dagegen entschieden, auch wenn sie das Verfahren für fehlerhaft halten (DWDL). Nachgelost werden muss aber (TSP).  +++

+++ "Ein Kommentator des Deutschlandfunks meinte, die Kollegen sollten es jetzt doch gut sein lassen, nach dem Motto: „Wenn Journalisten zu heftig um sich selbst kreisen, wird nicht nur ihnen, sondern irgendwann auch der Öffentlichkeit schwindlig.“ Wer bei diesem Losverfahren von vornherein bessere Karten besaß, hat am Ende gut reden." Ist noch ein weiteres Zitat aus dem Hanfeld-Text. Es leitet über zu einer FAZ-Buchbesprechung (Seite 28) von Georg Kleins Feuilletontexten, die den Metadiskurs der Selbstbeschäftigung (ein Schriftsteller schreibt Zeitungstexte, die in einem Buch herausgeben werden, das wiederum in der Zeitung besprochen wird) allerdings zu reflektieren versucht: "Georg Kleins für den Tag geschriebene Texte, nun in Buchform zu höheren Insekten aufgestiegen, versprechen eben dies: den Tag zu überdauern. Nicht nur, weil sie von einem luziden Blick auf unsere Kultur zeugen, sondern weil Klein den Objekten seiner Beobachtung und Lektüre mit einer faszinierenden Dringlichkeit zu Leibe rückt, ohne viel Aufhebens davon zu machen." +++

+++ Joachim Huber fragt sich im Tagesspiegel, wofür die Öffentlich-Rechtlichen die niedrigste Gebührenerhöhung aller Zeiten bei der KEF angefragt haben: "Für welche Summe aber kaufen ARD und ZDF Fußballrechte, was verdienen Talk-Moderatoren, für welches Geld hat das Erste dem Zweiten Jörg Pilawa weggekauft?" +++ Daniel Bouhs schreibt in der TAZ wieder einmal interessant über die Tricks des Quotenpimpens beim ZDF, Stichwort: Sonderprogrammierung. "Eine bisschen Sonderprogrammierung, wie dieses Phänomen im Sendersprech heißt, ist rund um den Jahreswechsel normal. Der neue Umfang, der sich bis in den April hineinzog, allerdings nicht. Da war vor allem dieses Muster erkennbar, das nicht allein auf 'Frontal 21' zutraf: Wann immer im Ersten dienstags gekickt wurde, legte das Zweite statt seiner regulären Sendungen lieber schnulzige Spielfilme auf." Die Bildungsauftragsrolle des ZDF wird natürlich knallhart überwacht: "'Die Aufseher des Senders geben sich gewohnt zurückhaltend. "Dafür wird das Programm ja produziert: möglichst viele Zuschauer zu erreichen', sagt der CDU-Politiker Ruprecht Polenz, der dem Fernsehrat vorsitzt. "Und natürlich freut man sich, wenn einem das besser gelingt als anderen Programmen." Der Frage, welchen Preis die Marktführerschaft haben darf, weicht er hingegen aus." +++ Der Rundfunkrat beim HR kommt derweil zum Schluss, das Denis Schecks insuffizienter Versuch, durch Blackfacing komisch sein zu wollen, okay geht (TAZ): "'Bei der überwiegenden Zahl der Mitglieder herrschte die Meinung vor, dass die Art der Darstellung als nicht übermäßig gelungen zu bewerten ist', so Jörn Dulige, Vorsitzender des HR-Rundfunkrats. 'Hinsichtlich der inhaltlichen Aussage des Kommentares besteht im Rundfunkrat Konsens, dass diese vom hohen Gut der Meinungsfreiheit geschützt sind." +++

+++ Julia Prosinger stellt im TSP den ausgezeichneten Lokaljournalisten René Wappler vor, der unerschrocken seine Arbeit macht und in der Lausitzer Rundschau auch über Rechtsextremismus schreibt: "'Wenn der Chef der Motorradrockerbande Gremium mich hier in der Gasse niederbrüllt, weil ich einen Zusammenhang zur rechten Szene herstelle, dann macht mir das keine Angst. Es macht mich ratlos', sagt er.... Er hat auch nie einen Kurs gemacht, wie er sich gegen Gewalt wehrt oder richtig kommuniziert. Er recherchiert nicht verdeckt, schleust sich nicht in rechte Kreise ein. Wappler ist kein Wallraff, Wappler ist ein Redakteur zum Anfassen." +++ Dima Romaschkan vermisst dagegen Mut bei Jason Collins, der sich gerade als erster aktiver NBA-Spieler als homosexuell geoutet hat: "Jason Collins ist nicht nur ein Held. Sein Coming-out jetzt als großen Akt der Courage zu glorifizieren, ist nicht ganz sauber. Wo bitte ist das Heldenhafte an seiner Risiko-Nutzen-Rechnung? Wäre Collins ein aufstrebender 23-Jähriger Spieler, der vor seinem ersten großen Vertrag steht und durch sein Bekenntnis seine Karriere aufs Spiel setzt, okay. Aber so? Halb aus dem Ruhestand outen? Soll das die Vorbildfunktion für andere homosexuelle Athleten sein?" Schon aufschlussreich, was man als Autor an seinem Schreibtisch so alles fordern kann und welche naive Vorstellung ein Journalisten hat von seinem Metier, der mediales Getöse nicht als mediales Getöse erkennen kann. +++ In der SZ (Seite 29) portraitiert Claudia Tieschky RBB-Intendantin Dagmar Reim zum 10-jährigen Amtsjubiläum: "Wenn man Reim fragt, ob da ein Zögern war, die dritte Amtszeit noch auf sich zu nehmen, fragt sie zurück, ob diese Frage auch einem Mann gestellt würde. Selbstverständlich würde sie. Nur ist die Zahl der Männer in der ARD, denen man diese Frage stellen könnte, überschaubar. Lutz Marmor (NDR), Ulrich Wilhelm (BR), oder Peter Boudgoust (SWR) kamen nach Reim ins Amt, nur Helmut Reitze vom Hessischen Rundfunk leitet seinen Sender um ein paar Wochen länger sie." +++ Seit 20 Jahren kennen sich Christoph Azone und Stefan Rupp, die beim Berliner Sender Radioeins die Morgensendung moderieren. Das Gespräch Ulrike Simons mit beiden in der Berliner ist eine kurze Radiogeschichte. +++

Der Altpapierkorb füllt sich morgen wieder

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