Wie 2015 eine hessische Kleinstadt veränderte

Blick in die Mensa der Erstaufnahme. Einige Gruppen von Menschen sitzen an Tischen.
epd / Aaron Kniese
Auch wenn es in der Mensa an diesem Tag ruhig zugeht: 747 Menschen leben in den mehrstöckigen Unterkunftsblöcken der Erstaufnahme in Gießen.
Die Erstaufnahme bleibt
Seit 2015 leben Geflüchtete in einer ehemaligen Kaserne im hessischen Neustadt. Laut Regierungspräsidium Gießen gibt es ein friedliches Miteinander in der Kleinstadt. Der Bürgermeister sieht
das nicht ganz so positiv.

Zwei Stockbetten und zwei Einzelbetten aus Metall mit unbezogenen Matratzen stehen in Raum 116 eng beieinander. Dazu sechs Metallspinde, zwei Stühle und ein alter Kühlschrank. Bis zu sechs geflüchtete Menschen werden hier demnächst wieder einziehen und sich den einzigen Zimmerschlüssel teilen müssen. Der frühere Bundeswehrstandort Ernst-Moritz-Arndt-Kaserne im mittelhessischen Neustadt dient seit Mai 2015 als Außenstelle der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende.

Im August 2025 leben nach Angaben des Regierungspräsidiums Gießen 747 Menschen in den mehrstöckigen Unterkunftsblöcken. In Spitzenzeiten seien es bis zu 1.100 in der Kleinstadt mit 10.000 Einwohnern gewesen. Ursprünglich habe das Regierungspräsidium Gießen geplant, die Einrichtung im Kreis Marburg-Biedenkopf nur etwa ein gutes Jahr zu betreiben und mit rund 600 Menschen zu belegen, berichtet Neustadts Bürgermeister Thomas Groll (CDU).

Denn die Flüchtlingszahlen sollten schnell - so die Einschätzung vor zehn Jahren - so weit zurückgehen, dass die Nutzung der Erstaufnahme überfällig werde. Da es sich bei der Kaserne um eine Fläche des Bundes handele, "hatten wir nicht die Möglichkeit zu sagen, dass wir die Einrichtung hier nicht haben möchten", sagt der Stadtchef.

Zehn Jahre später blickt Thomas Groll zurück und stellt fest: 95 Prozent der Geflüchteten verhielten sich unauffällig. Allerdings seien die Diebstahlzahlen "natürlich gestiegen", besonders in Lebensmittelmärkten und anderen Läden, sagt er. Nach Angaben des Polizeipräsidiums Mittelhessen hat sich die Zahl der Ladendiebstähle in Neustadt von 2015 (31 Fälle) auf 2016 (70 Fälle) verdoppelt, ist allerdings 2017 wieder auf 19 gefallen. Im Jahr 2024 wiederum hat die Polizei 59 Ladendiebstähle erfasst. Ob diese schwankenden Zahlen mit der Erstaufnahme zusammenhängen, könne nicht gesagt werden.

Im Januar 2024 kam es nahe der Einrichtung zu 16 Autoaufbrüchen. Die beiden mutmaßlichen Täter waren Asylbewerber und wohnten in der Unterkunft gegenüber. Der Bürgermeister bot den Anwohnern in der Nachbarschaft zur Einrichtung von Überwachungskameras eine finanzielle Unterstützung von 150 Euro an. Ein Angebot, das damals Schlagzeilen machte. Knapp 50 Haushalte nahmen das Geld für die Kamera an.

Laut Groll stärken solche Maßnahmen das "subjektive Sicherheitsgefühl" der Neustädter. Eine angedachte nächtliche Ausgangssperre für die Bewohner der Flüchtlingseinrichtung, die laut dem Bürgermeister weder populistisch noch von rechts außen motiviert gewesen sei, sei juristisch nicht umsetzbar gewesen. Der Hessische Flüchtlingsrat mahnte damals, es dürfe nach Taten wie den Autoaufbrüchen nicht zu Pauschalisierungen kommen.

Als ein Beispiel für sichtbare kulturelle Unterschiede von alteingesessenen Bürgern und Geflüchteten, die bis zu eineinhalb Jahren in der Erstaufnahme bleiben, nennt Groll den Kurpark. Dort seien die Flüchtlinge mit Decken zum Picknicken unterwegs, während die Neustädter eher auf einer Parkbank Platz nähmen. Und er fügt hinzu, dass die Neustädter seit 2015 in ihren Straßen Menschen sehen, "die sie sonst nur in den Großstädten oder im Fernsehen gesehen haben".

Das zuständige Regierungspräsidium Gießen hat einen durchweg positiven Blick auf zehn Jahre Erstaufnahmeeinrichtung in Neustadt: "Die Unterkunft ist für unsere Zwecke hoch geeignet. Wir schaffen hier ein friedliches Miteinander sowohl innerhalb der Einrichtung als auch im Umfeld", sagt Manfred Becker, zuständiger Abteilungsleiter im Regierungspräsidium. Man plane daher dauerhaft mit der Unterkunft.

Finanziell profitiert die Kleinstadt von der Erstaufnahmeeinrichtung. Neustadt habe vom Land Hessen Fördermittel erhalten, mit denen das Freibad saniert, das Bürgerhaus neu gebaut und der Kurpark neu angelegt werden konnte. "Ich finde es völlig richtig, dass wir mehr bekommen. Wir erbringen einen Dienst für das ganze Land", sagt Groll. Eine solche Einrichtung ändere das Klima und das gesamte Gefüge der Stadt. "Deshalb müssen die Menschen merken, dass das Land sie nicht alleine lässt."