TV-Tipp: "Tatort: Blind Date"

Fernsehen, TV, TV-Tipp
© Getty Images/iStockphoto/vicnt
Sonntag, 24. Oktober, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Blind Date"
Der "Tatort: Blind Date" ist der dritte Fall für die Mainzer Kommissarin Ellen Berlinger - gespielt von Heike Makatsch. Der Krimi fasziniert auf gleich mehreren Ebenen.

Es gibt nicht viele männliche Autoren, die so starke weibliche Krimifiguren schreiben wie Wolfgang Stauch. Gerade für den „Tatort“ hat er in den letzten Jahren einige hochinteressante Protagonistinnen erschaffen, darunter die Stasi-Venusfalle in „Der Tod der Anderen“ (2021, Köln), die Heckenschützin in „Du allein“ (2020, Stuttgart) oder den frühreifen weiblichen Teil des Jugendduos „Leonessa“ (2020, Ludwigshafen). Aus Stauchs Feder stammt auch die ebenfalls für den SWR entstandene Minireihe „Emma nach Mitternacht“ (2016) mit Katja Riemann als Radiopsychologin.

Für „Blind Date“ hat sich Stauch gleich zwei starke Frauen ausgedacht. Der dritte Fall für die Mainzer Kommissarin Ellen Berlinger (Heike Makatsch) bedient sich des seltenen, aber durchaus nicht ungewöhnlichen Krimi-Motivs der blinden Zeugin: Rosa Münch (Henriette Nagel) hat gehört, wie ein Mann und eine Frau eine Tankstelle überfallen und dabei den Kassierer erschossen haben. Den beiden war offenbar nicht klar, dass Rosa sie anhand ihrer Stimmen identifizieren kann; Berlinger fürchtet daher, dass das Pärchen versuchen wird, die Ohrenzeugin zu beseitigen. Die Studentin verbittet sich trotzdem jeden Polizeischutz und sucht im Gegenteil sogar die Gefahr: weil sich ihr auf diese Weise endlich die Möglichkeit bietet, aus ihrem überbehütenden Elternhaus auszubrechen.

Der Krimi fasziniert auf gleich mehreren Ebenen, aber der größte Reiz liegt zunächst in Rosas Wahrnehmung der Welt. Die junge Frau wehrt sich dagegen, blind zu sein, da sie noch ein Prozent Sehkraft besitzt; wenn die Kamera (Cornelia Janssen) ihre Perspektive übernimmt, reduziert sich das Dasein auf eine allumfassende Schwärze mit hellen Flecken. Rosas Augen sind die Ohren und die Nase. Stauch stilisiert sie zwar nicht zur Superheldin, erfreut aber dennoch durch diverse Details, weil sie zum Beispiel plausibel begründen kann, warum das Motorrad des Pärchens eine Geländemaschine war. Als Knüller entpuppt sich jedoch die Identifikation des Geruchs, den sie aufgeschnappt hat: Das Duo hat 500 Euro erbeutet; gerade mal doppelt so viel, wie das teure Parfüm der Täterin kostet.

Inspiration für die Geschichte war das „Affluenza“-Phänomen, eine besondere Form der Wohlstandsverwahrlosung, die immer wieder mal Krimithema ist: Jugendliche aus vermögendem Elternhaus sind derart gelangweilt von ihrem Dasein, dass sie Verbrechen begehen, um einen besonderen Kick zu erleben.

Stauch lässt sein Ermittlerduo – Sebastian Blomberg hat diesmal deutlich mehr Spielmaterial und vor allem pointiertere Dialoge als in „Zeit der Frösche“ (2018) – über den Fall Ethan Couch sprechen. Der amerikanische Teenager hat 2013 betrunken mit seinem Auto vier Menschen getötet, ist jedoch mit einer Bewährungsstrafe davongekommen, weil das Gericht die Ansicht der Verteidigung teilte, er leide unter der Wohlstandskrankheit Affluenza: Seine Eltern hätten ihm nie Grenzen gesetzt.

Vor diesem Hintergrund entwirft Stauch einen reizvollen Kontrast: hier Rosa, die sich endlich vor allem von ihrem Helikopter-Vater (Rainer Furch) befreien will, dort die gleichaltrige Sophie (Anica Happich), die in scheinbar grenzenloser Freiheit lebt und auch sonst in jeder Hinsicht das Gegenteil von Rosa verkörpert.

Die Konfrontation der beiden jungen Frauen ist ohnehin der Höhepunkt des Films: Henriette Nagel und Anica Happich sorgen dafür, dass die entsprechenden Szenen nicht nur wegen ihrer teilweisen Freizügigkeit weitaus interessanter sind als der Handlungsstrang mit dem Privatleben der Kommissarin. Diese Ebene erweckt mitunter den Eindruck, als hätten Buch, Regie (Ute Wieland) und der Sender vermeiden wollen, dass Heike Makatschs Rolle auf typische „Tatort“-Dialoge („Wo waren Sie gestern…?“) reduziert wird: Berlinger erhält überraschend Besuch von ihrem früheren britischen Geliebten David (Alan Burgon), der auch der Vater der kleinen Greta ist. Der gut geführte süße Fratz wird fortan nicht mehr mitwirken, David nimmt das Kind mit nach England. Die mit der Doppelbelastung ohnehin überforderte Polizistin reagiert erleichtert, macht sich aber gleichzeitig Vorwürfe, weil sie nun schon zum zweiten Mal als Mutter gescheitert ist.

Im Unterschied zu dieser mitunter etwas ausufernden Nabelschau versprühen Nagel und Happich eine geradezu ansteckende Energie: Die aufgeweckte Rosa musste zwar nicht aus einem Dornröschenschlaf geholt werden, aber Sophie sorgt für ihre Befreiung. Es macht viel Spaß, dabei zuzuschauen, wie die beiden jungen Frauen auf dem Motorrad durch Mainz rasen und der Polizei ein Schnippchen schlagen.

Wieland hat Henriette Nagel vor vielen Jahren für den Kinofilm „Freche Mädchen“ (2008) entdeckt. Beide Schauspielerinnen sind klasse, aber Happich, die bislang vorwiegend Theater gespielt hat, ist als böses Mädchen ein echtes Ereignis. Jan Bülow macht seine Sache als Dritter im Bunde allerdings auch ziemlich gut. Zum Trio werden die drei, als die beiden Frauen eine Beziehung beginnen und es für Rosa nur eine Möglichkeit gibt, herauszufinden, ob Sophie es ernst mit ihr meint oder ob sie sie bloß auf raffinierte Weise zum Schweigen bringen will; die Geschichte endet mit einem fatalen Finale.