Salzfisch zum Frühstück: Ein Altenheim in Indonesien

Salzfisch zum Frühstück: Ein Altenheim in Indonesien
Indonesien ist weit weg. Familie hat in dem vornehmlich muslimischen Land, zersplittert über 1.700 Inseln, einen ganz anderen Stellenwert als hierzulande. Altenpflege ist daher auch Familiensache. Alten- und Pflegeheime, wie wir sie kennen, sind selten in Indonesien. Einige wenige gibt es aber. Eines davon steht in Sukamakmur, im Norden von Sumatra.
31.03.2010
Von Katharina Weyandt

Jeden Tag des Jahres um 5 Uhr früh dämmert es rund um das Altenheim. Bald zwitschern, pfeifen Vögel in grellen, hohen Tönen. Der Frühdienst weckt die Bewohner der Dreier-Zimmer, öffnet die Türen nach draußen auf die Terrasse rings um den Innenhof. Das "Pelayanan orang tua sejahtera" in Sukamakmur liegt in den Tropen, im Bergland der indonesischen Insel Sumatra dicht am Äquator. Hier wird es auch nachts nicht kälter als 20 Grad.

Als erstes geht's zum Duschen. Wegen der feucht-heißen Temperatur ist es im ganzen Land üblich, sich morgens und abends mit Wasser zu erfrischen. Manche der 26 Frauen und elf Männer im Heim hatten kein fließendes Wasser zu Hause, sondern badeten im Fluss oder schöpften das Wasser aus einem Brunnen. Boiler gibt es nur in Hotels, bei reichen Leuten oder hier im Heim. "Morgens werden wir warm gebadete. Zu Hause bekam ich eine Gänsehaut", nennt die 72-jährige zierliche Rutemulem als einen Grund, weswegen sie gern hier ist. Vor fünf Monaten ist sie verwitwet und war durch einen Schlaganfall rechtsseitig gelähmt. Ihr großer Bruder und ihr ältester Sohn haben sie Weihnachten ins Heim gebracht. Sie klopft gegen ihr Knie: "Ich kann nichts allein machen, ich bin lahm; als ich kam, war meine Hand so verkrampft" – sie ballt eine Faust – durch die Physiotherapie wurde es erträglich." Sie streckt ihre schlanken braunen Finger aus. "Ich übe laufen, ich bin eben von hier nach da gelaufen." Ein weiterer Grund, weshalb sie nicht wieder nach Hause möchte: "Meine Kinder haben so viel zu tun, ich bin glücklicher hier."

"Zwei Kinder sind genug"

In der 237-Millionen-Bevölkerung bröckelt die Großfamilie als Lebensform, auch wenn der Respekt vor dem Alter tief in der Kultur verwurzelt ist. In den letzten zwei Generationen seit 1950 stieg die durchschnittliche Lebenserwartung von 47 Jahren auf etwa 70 Jahre, und auch die Zahl Betagten bis zu den 100-Jährigen steigt ständig an. "It is a blessing", " es ist ein Segen", resümierte Soesilo Wibowo von der "National Commission for Older Persons" 2007 bei einer Konferenz in Bangkok, aber es rufe zugleich Probleme hervor, wenn dieser Tatsache nicht rechtzeitig vernünftig und systematisch begegnet wird". Allerdings ist das Verhältnis von Jungen und Alten noch weit ausgewogener als in Deutschland. Noch herrscht kein Geburtenmangel, im Gegenteil, es hängen Plakate für Familienplanungsprogramme mit dem Slogan "Zwei Kinder sind genug" an den Straßen.

Die Familie trägt für Rutemulem (Bild links) und die meisten anderem die Heimkosten – zwischen umgerechnet 33 und 50 Euro monatlich. Eine eigene Rente haben die wenigsten. 10 Cent pro Tag und Kopf gibt seit drei Jahren das Sozialamt dazu, ansonsten profitiert das Heim von Spenden und einzelnen öffentlichen Förderungen. Das neue weiße Haus der Direktorin mit zwei Säulen vor der Tür habe der Gouverneur Nord-Sumatras bezahlt, so erklärt Rehkem, die stellvertretende Vorsitzende der Stiftung, die das Heim trägt. Die anderen Gebäude wurden komplett aus Spenden bezahlt, wie Marmortafeln an den Mauern mit sorgfältig gemeißelten Lettern verkünden. Ein Arzt besucht die Alten jede Woche gratis, und das gespendete Laufband und das Indoor-Bike im Physiotherapie-Raum werden gegen Spenden auch von Externen benutzt. Eine Bäckerei in der Hauptstadt Sumatras, dem eine Stunde weit entfernten Medan, schickt monatlich 500 Kilo Reis. "An Feiertagen bringen Chinesen Essen vorbei, das gut für alte Menschen ist", erzählt Rehkem, die etliche Jahre die Schatzmeisterin war. Sie hat den Haushalt im Kopf.

Altenheime passen nicht zur Kultur: "Weggeben ist wegwerfen"

Der größte Ausgabeposten mit fast 1.000 Euro sind die Lebensmittel. Der Speiseplan für die in der Heimküche gekochten drei warmen Mahlzeiten hängt aus. Schon zum Frühstück gibt es Reis, Nudeln, Ei, Salzfisch oder Tempe aus Sojabohnen. Auch fast alle der zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wohnen und essen im Heim, wenn sie nicht einen Ehepartner außerhalb haben. Ihre dazu ausbezahlten Löhne sind niedrig, sie beginnen bei etwa 16 Euro in der Einarbeitungszeit von drei Monaten. Zum Vergleich: Die 65-jährige Rehkem erhält als Lehrerinnen-Pension etwa 205 Euro monatlich. Das Heim ist ein Pionier-Projekt: Als es 1991 gegründet wurde, war es eins der allerersten im Staat der über 1.700 Inseln.

Die Initiatorin aus dem Komitee der kirchlichen Frauenarbeit setzte sich mit dieser Idee, gefördert durch Beziehungen ihres Mannes zu einer holländischen Stiftung, gegen ihre Kirchenleitung durch. Denn, so erklärt Rehkem, "das passt nicht zu unserer Kultur, weggeben ist wie wegwerfen, heißt es. Aber zu Hause hat dann keiner Zeit, sich um den Alten zu kümmern, mit ihm zu reden. Immer wieder wollen alte Menschen hier hin, aber die Kinder sagen 'das ist nichts für den guten Namen unserer Familie'". So dauerte es drei Jahre, bis überhaupt der erste Bewohner einzog. Und heute sind noch 23 Plätze frei. Die übrigen Zimmer dienen gegen 2,50 Euro pro Nacht aus Ausweichquartiere bei großen Konferenzen der Karo-Batak-Kirche, die hier ein 40 Hektar großes Freizeitzentrum unterhält.

In ganz Indonesien gibt es laut Soesilo Wibowo von der "National Commission for Older Persons" nur gut 150 Altenheime mit nicht einmal 9.000 Bewohnern. Arme Alte in den Städten werden manchmal durch PUSAKAs, eine Art "Mehrgenerationen-Häuser" unterstützt. Sie bestehen aus einem Mittagstisch, Hilfen im Haus nach Bedarf und Kursen für die Kinder- und Enkelgeneration, für welche die Großmütter oft die Verantwortung tragen. Wohlhabendere holen sich eine Privatpflegerin ins Haus, wie es der Leiter des Freizeitzentrums, Pastor Matius Barus und seine Frau Rehmuli, von ihrer Nachbarin erzählen. Und Witwer würden meist noch einmal heiraten: eine jüngere Frau, die sie dann pflegt.

Witwer heiraten ihre Pflegerin fürs Heim

Ginting (65) in gelber Sportjacke und rotem Hut, hat sich anders entschieden. Er ist einer der jüngsten Bewohner. Er habe Theologie an der Ludwig-Nommensen-Universität auf Sumatra studiert, aber das Examen nicht bestanden, erzählt er freimütig, und dann Versicherungen verkauft. Im Interview fällt er vom Indonesischem ins Englische. Zwei Kinder im Alter von 27 und 26 Jahren habe er, und sei vor drei Jahren "for my will" hier eingezogen. "Ich bin ein bisschen anders, ich habe die Welt draußen satt, dies ist a very nice place, sicher und ruhig. Ich mag die Bewohner, ich unterhalte mich am liebsten mit allen." Seine Kinder, die für ihn zahlen, hat er nur einmal in den Jahren gesehen, aber die Neffen und Nichten seiner sieben Geschwister sind für ihn wie Enkel, sie besuchen sich oft gegenseitig.

Die meisten Bewohner sind älter und haben mehrere Gebrechen, Arthrose, Schlaganfall, Diabetes, Demenz. Die Pflegerinnen Sory und Erthauli aktivieren sie mit einem Wunschlieder-Singen. Traditionelle Volkslieder, Kinderlieder und viele Kirchenlieder, oft mit deutschen Melodien, wechseln sich ab. Rutemulem wünscht sich "Glücklich in Jesus", das habe sie immer im Chor gesungen. Auch wer zuerst teilnahmslos guckt, singt sein Lied kräftig auswendig mit. Manche deuten mit den Händen die traditionellen Tänze an, die in den Tempeln und Palästen, aber auch auf jeder Hochzeit vorgeführt werden. Genep (85, Foto unten) ist zwar vergesslich, aber beim Falten des eckigen Turbans sitzt jeder Handgriff, auch wenn der Stoff nur ein Frotteehandtuch ist.

Günstiges Klima für die Alten, aber keine Waschmaschine

Ein festes Klübchen in der Terrassen-Sitzecke auf der flachen Matte sind die Frauen, die Betelblätter kauen. Die werden aus der Tasche geklaubt, zurecht geschnitten, gekaut, was einen tintenroten Saft ergibt, und anschließend ausgespuckt. Pflegerin Erthauli erklärt: "Das ist unsere Kultur, das macht die Zähne stark. Ihre Kinder bringen das mit, oder sie schicken die Mitarbeiter, das einzukaufen." "Es ist eine Sucht", ergänzt Binting von hinten, "die Männer rauchen dafür".

Das Klima ist günstig für die Alten. Ohne Gefahr zu erkälten können sie auf dem Boden sitzen oder sich während der Musikrunde hinlegen, wann immer ihnen danach ist. Die freie Luft mildert auch ein zentrales Pflegeproblem, die Inkontinenz. Rehkem ist mit dem Alltag im Heim vertraut. "Die Mitarbeiter tun mir leid, weil die alten Menschen vergesslich sind. Sie machen ihre Pampers auf und verteilen den Inhalt im Bad. Nicht alle haben Pampers, nur wenn die Kinder das bezahlen. Und das Baden ist ihnen zu anstrengend und die Luft hinterher zu kalt. Was kann man machen, damit sie nicht stinken?"

Sie wünscht sich mehr Fortbildung für die Mitarbeiter, die nach einer Krankenpflegeausbildung bisher mehr durch kurze Trainings und Hospitationen in den wenigen anderen Heimen lernen. Andererseits ist die Pflege eine Geldfrage: abgesehen von der Natur, den Gebäuden und dem Essen ist die Ausrüstung bescheiden. Zum Beispiel waschen die Mitarbeiter alle Wäsche selbst von Hand – wie in Indonesien üblich –, weil seit einiger Zeit die Waschmaschine kaputt ist. Wie viel Personal pro Bewohner zur Verfügung steht, müsste erst an Hand von Ermittlungen der Pflegebedürftigkeit und Tätigkeitsprofilen erhoben werden. Den Nachtdienst übernimmt ein Mitarbeiter allein.

Bewusster Umgang mit dem Sterben

Zu den Traditionen der Karo-Batak, die fest ins kirchliche Leben integriert sind, gehört der bewusste Umgang mit dem Sterben. Auch wenn die Sterberate in dem Heim noch gering ist, nur zwei starben 2009, "reden die Menschen oft darüber, dass sie hier sterben wollen. Viele haben sich aus dem Dorf die Kleidung mitgebracht, die sie dann tragen wollen, und sagen: 'die und die Blumen sollt ihr mir kaufen'. Und wenn wir von der Stiftung sehen, dass kein Angehöriger Blumen kauft, beschaffen wir welche", erzählt Rehkem. Schön gewaschen, die Frauen sogar geschminkt, wird der Tote in einem kühlen Raum mit dicken Wänden aufgebahrt. Die anderen verabschieden sich von ihm. Die Frage, wo die Beerdigung sein soll, wird gleich bei der Heimaufnahme gestellt. Und fast immer wird die Leiche dann ins Heimatdorf überführt, aus Rücksicht auf die Großfamilie und die traditionellen Beerdigungsriten, selbst wenn die Kinder es eigentlich anders wollten, erklärt Rehkem. Schon während der Alte im Sterben liegt, werden die Karten fertig gedruckt, dann müssen nur noch die weiter weg Wohnenden per Handy informiert werden, und binnen zweier Tagen findet die Beerdigung statt.

Genauso pünktlich, wie sie morgens auf geht, sinkt abends gegen 18.30 Uhr die Sonne wieder. Schnell wird es Nacht. Eine Stunde später schlafen alle in ihren Betten. Zwei junge Mitarbeiterinnen genießen ihren Feierabend in ihrem Aufenthaltsraum zwischen Küche und Waschküche vor dem Fernseher. Der Pfleger vom Nachtdienst macht seine Runde. Die schlanken Katzen spielen im Hof. Grillen zirpen laut.


 

Katharina Weyandt ist freie Journalistin, schreibt für evangelisch.de und war jüngst in Indonesien unterwegs.