"Es gibt viele Schrauben, an denen gedreht werden muss"

"Es gibt viele Schrauben, an denen gedreht werden muss"
Pfarrer Ralf Vogel ist der Begründer der "Nachtschichten", einer Reihe von Abendgottesdiensten in Stuttgart, die sich großer Beliebtheit erfreut. Vier Gottesdienste stehen immer unter einem gemeinsamen Thema, zu dem Pfarrer Vogel einen Gast einlädt und statt einer Predigt mit ihm diskutiert. Am 28. Februar war Astrid Hahn, die Schulleiterin der Albertville-Realschule in Winnenden, zum Thema Zivilcourage zu Gast bei Pfarrer Vogel und sprach mit ihm darüber, wie sie es schafft, den Glauben an das Gute zu bewahren und jungen Leuten Mut zu machen. Evangelisch.de sprach mit Pfarrer Vogel über Winnenden ein Jahr danach, über die Rolle von Kirche beim Umgang mit solchen Katastrophen und die Vermittlung von Werten in unserer Gesellschaft.
11.03.2010
Die Fragen stellte Hanno Terbuyken

Evangelisch.de: Sie hatten in der Nachtschicht Gelegenheit, mit Astrid Hahn zu sprechen, der Schulleiterin der Albertville-Realschule in Winnenden – das übergreifende Thema war "Zivilcourage". Wie hängen der Amoklauf in Winnenden und Zivilcourage zusammen?

Pfarrer Ralf Vogel: Bei diesen Nachtschichtgottesdiensten ist es so, dass wir nicht jedes Mal ein neues Thema durchs Dorf jagen, sondern dass wir ein Überthema suchen, an dem wir viermal dran bleiben. Das ist diesmal das Thema Zivilcourage, ein Thema mit vielen Facetten. Das sind ja nicht nur spektakuläre Aktionen. Es geht manchmal auch einfach nur darum, den Mut aufzubringen, wieder aufzustehen und den Alltag hinzukriegen. Auch wenn ich die Zeit anhalten möchte, irgendwas geht weiter. Nirgendwo ist das so mit Händen zu greifen wie an dieser Schule, wo das nicht nur die Erfahrung von einzelnen ist, sondern eine Gemeinschaftserfahrung. Alle liegen am Boden, und alle müssen sich gegenseitig stützen und wieder in den Alltag zurückfinden. Und ich finde es eine ganz wichtige Facette des Themas, einfach den Mut zu haben, morgens aufzustehen und seine Sachen wieder anzugehen.

Frau Hahn hat sehr eindrücklich geschildert, wie sie oft abends denkt: "Ne, ich kann eigentlich nicht mehr. Ich will schon... aber ich kann eigentlich nicht mehr." Und am nächsten Morgen aber auch das Glücksgefühl: Doch, es geht wieder weiter, ich kann wieder aufstehen und ich kann meine Aufgabe angehen. Da ist eine Brücke zu uns allen. Es kann jedem von uns passieren, dass er in so eine Situation kommt.

Evangelisch.de: Glauben Sie, dass der Mensch dazu gemacht ist, weiterzugehen? Ist das etwas, was jeder können kann, oder braucht es dazu eine besondere Form von Mut oder Zivilciourage?

Vogel: Das ist auf jeden Fall nichts, was selbstverständlich ist, sondern da muss etwas passieren. Wir haben im Gottesdienst die Geschichte inszeniert, wie Elija nicht mehr weiter will und in der Wüste am Boden liegt und sagt: Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Und dann schickt ihm Gott einen Engel, der sagt: Steh auf und iss, du hast noch viel vor! Es muss also irgendwas passieren, damit man erkennt: ich kriege die Ruhe, die ich jetzt brauche, ich kriege die Stärkung, die ich jetzt brauche, ich kriege besondere Bedingungen, weil es nicht einfach so weitergehen kann wie bisher.

Schrecklich ist es für Menschen, die einfach weiter funktionieren müssen. Das ist eigentlich etwas Unmenschliches. Wir müssten alles daran setzen, dass es in unserer Gesellschaft selbstverständlich wird, dass Menschen, die solchen Schicksalsschlägen ausgesetzt sind, wirklich im besten Sinne des Wortes besondere Bedingungen kriegen. Was jetzt in der Albertville-Realschule ja tatsächlich der Fall ist, aber oft genug auch nicht. Das ist auf jeden Fall eine Lehre, die man aus Winnenden ziehen kann.

"Nicht warten, bis die nächste Katastrophe passiert"

 

Evangelisch.de: Ist Kirche ein Raum, der diese Zuwendung geben kann?

Vogel: Kirche, wie ich sie verstehe, auf jeden Fall! Nämlich nicht in erster Linie als Institution, sondern in erster Linie sind es die Menschen, die Kirche ausmachen. Es ist sehr deutlich an der Albertville-Realschule, welche Bedeutung Kirche dort hat. Nämlich in Form einer ökumenischen Schulgemeinde, die sich da gegründet hat, wo wirklich die Schüler - nicht einzelne, besonders fromme, sondern die Schüler - zusammenleben, zusammenstehen, zusammen versuchen, das zu verarbeiten. Mit den Religionslehrern, mit dem Ethiklehrer, das ist wirklich Ökumene im großen Sinn des Wortes. Da sind alle eingeladen, dazuzukommen und miteinander auch Rituale zu entwickeln, wie die Trauer bewältigt werden kann, wie die Menschen nicht vergessen werden können. Und da hat Kirche ganz viel zu tun.

Evangelisch.de: Kann die Notsituation auch als Beispiel dienen, wie man durch Gemeinschaft und das gemeinsame Nachdenken und Miteinander solche Taten verhindern kann? Liegt in der gemeinsamen Verarbeitung des Amoklaufs von Winnenden eine Chance?

Vogel: Es müsste, es müsste unbedingt! Es kann nicht sein, dass wir wieder warten, bis die nächste Katastrophe passiert. Winnenden kann uns in vielerlei Hinsicht als Beispiel dienen, etwa mit den neu eingerichteten Klassenlehrerstunden, wo die Schüler Zeit haben, auch voneinander zu lernen, voneinander zu erfahren. Man müsste wirklich gucken, wie die Schritte, die dort gegangen werden, auf jede andere Schule übertragbar sind. Auch was die Medienerziehung angeht, die jetzt eine große Rolle spielt. Es kann ja auch nicht sein, dass die anderen Schulen sagen: Naja, in Winnenden ist das nötig, bei uns nicht. Medienerziehung muss im Zentrum der Bildung stehen, weil Kinder Tag und Nacht mit Medien umgehen.

Und auch da hat natürlich Kirche eine große Rolle. Frau Hahn hat es im Gottesdienst angesprochen, dass ihr Hauptthema bei Medienerziehung und bei Erziehung zu sozialem Miteinander eigentlich der Selbstwert ist, dass die Schüler verstehen, dass sie selber unendlich wertvoll sind. Da haben Kirche und Religionsunterricht viel beizutragen zu dieser Selbstwertbildung.

"Wir müssen die Lehrer unterstützen"

 

Evangelisch.de: Im Gunde klingt das selbstverständlich, nach etwas, das jedem Kind, jedem Jugendlichen auf vielen Ebenen – Eltern, Freunde, Schule – beigebracht werden muss und auch beigebracht wird. Müsste Ist diese Selbstverständlichkeit verloren gegangen?

Vogel: Astrid Hahn hat im Gottesdienst angesprochen, dass ein Wechsel stattfindet: Die Schule ist zunehmend der entscheidende Lebensraum. Wir können nicht mehr sagen, die Erziehung läuft ja zu Hause, die Kinder werden das da alles mitkriegen. Diese Selbstverständlichkeit ist weg. Schule muss die Aufgabe übernehmen, für Kinder einen Lebensraum zu schaffen, wo ihnen vermittelt wird: Du bist unendlich wertvoll. Das war bisher oft natürlich nicht so. Man wird in der Schule gemessen und unter Umständen für zu klein, für zu dumm, für zu schwach befunden. Hier ist eine enorme Aufgabe. Davon, dass die Schule dem Kind sagt: "War wohl nichts", aber zu Hause liebevolle Eltern stehen, die das auffangen und wieder aufbauen, davon kann ich nicht ausgehen. Da muss die Schule einen Raum schaffen, in dem Schüler merken: Sie sind mehr als ihre Noten. Einen Raum, in dem der Leistungsdruck keine Rolle spielt. Das ist nichts, was vom Himmel fällt, das muss in den nächsten Jahren erarbeitet werden.

Evangelisch.de: Braucht es dafür eine Veränderung im Bildungsideal, im Selbstverständnis von Schule und von Lehrern?

Vogel: Ich glaube, die haben das schon! Der Witz ist nur: Die gehen kaputt an ihren Vorstellungen. Also schon als ich in der Ausbildung war, habe ich Hauptschullehrer erlebt, die den Schülern bis ins Freibad per Handy hinterher telefoniert haben, um ihnen die Bedeutung der nächsten Klassenarbeit klar zu machen, weil ihnen klar war, die Eltern werden es den Kindern nicht erklären. Aber die brechen zusammen! Wir müssen die Lehrer unterstützen. Die müssen so kleine Klassen haben, die müssen so viele Stunden bezahlt bekommen, die vielleicht auch über das Deputat hinausgehen, wo sie Kräfte sammeln können, wo sie sich fortbilden können, wo sie eben dafür Zeit kriegen, dass sie merken: Es ist auch gewünscht, dass sie den Job tun, von dem sie im Alltag schon lange festgestellt haben, dass sie ihn machen müssen.

Evangelisch.de: Wer setzt sich dafür ein? Wie schafft man es, diese und ähnliche Forderungen Wirklichkeit werden zu lassen? Bisher scheint das alles doch eher mühsam zu sein und nur langsam voranzugehen.

Vogel: Was es ja Gott sei dank gibt, ist dieses erste Aktionsbündnis gegen Gewalt, das mittlerweile eine Stiftung hervorgebracht hat, die der Aufsicht der Ev. Landeskirche in Württemberg untersteht. Die Schule arbeitet mit der Stiftung zusammen, die Kirche arbeitet mit der Stiftung zusammen - man braucht vielleicht wirklich so etwas, was die Menschen und verschiedenen Institutionen zusammenbringt. Denn Gewalt an Schulen ist alltäglich. Wie oft kommen Schüler von mir praktisch mit einem blauen Auge vom Pausenhof rein! Mit dieser Stiftung als Integrationsmodell könnte es zu einem Zusammengehen von Politik, von Kirchen, von allen möglichen Organisationen kommen, die sagen: Wir müssen von Anfang an der Gewalt begegnen. Nicht erst wenn die in der Ausbildung sind, nicht erst wenn sie kriminell werden, sondern schon in der Schule, damit die Kinder von klein auf lernen, mit Gewalt umzugehen, die da ist, und nicht auf Gewalt mit Gegengewalt zu reagieren.

"Da gibt es überhaupt keine Monokausalität"

 

Evangelisch.de: In der öffentlichen Diskussion werden die Gründe für Amokläufe wie in Winnenden oft auf einzelne Ursachen reduziert, wie gewalthaltige Videospiele. Wie begegnet man dieser Denkweise, die nicht der Wirklichkeit und auch nicht der Lebenswelt von Jugendlichen entspricht?

Vogel: Eine der Mütter, die in dieser Stiftung aktiv ist und die jetzt ein Buch veröffentlicht, hat bei einer Tagung in an der evangelischen Akademie Bad Boll sehr, sehr deutlich gesagt: Es gibt sehr viele Schrauben, an denen gedreht werden muss. Da gibt es überhaupt keine Monokausalität, gibt's gar nicht. Wir können manche Dinge ja nicht beeinflussen. Umso mehr müssen wir an den Schrauben drehen, die wir beeinflussen können. Diese Spiele, in denen Töten eingeübt wird, sind eine Schraube, an der gedreht werden muss. Aber kein Mensch, der bei Sinnen ist, meint da einen einlinigen Zusammenhang herstellen zu können, wenn nicht noch fünf andere Sachen schief laufen und es auf einen Jugendlichen trifft, der vielleicht wirklich sogar psychisch krank ist. Wir können aber auch nicht sagen: naja, das ist nicht der Grund, deswegen kümmern wir uns nicht drum.

Wir brauchen Schüler, die sich selbst schätzen und aus diesem Gefühl heraus andere schätzen können. Dass da ganz viele Faktoren sind, die dazu beitragen, dass das nicht passiert, dass Kinder sich nicht selber schätzen und deswegen auch andere nicht wertschätzen, das ist ganz klar. Und da muss uns jede Schraube recht sein, an der wir mitdrehen können. Ich denke, dass die Medienerziehung und der Umgang mit diesen Gewaltspielen eine ganz, ganz wichtige Schraube ist.

Evangelisch.de: Eine Welche Rolle spielen Kirche und Gemeinde zum Gesamterhalt von Werten? Ist die Gemeinde noch ein Ort, wo so etwas diskutiert wird, wo Menschen über Werte sprechen, oder ist es mehr eine Insel innerhalb der Gesellschaft?

Vogel: Im Augenblick besteht die Gefahr, dass letzteres passiert, dass das diese Insel wird, wo man sich zusammen hin zurückzieht und sich seiner selbst vergewissert. Das gesamte Nachtschicht-Projekt geht genau in die andere Richtung: Dass Kirche der Ort ist, in dem über Werte gesprochen wird. Wir versuchen, Themen zu finden, die auch Themen der Gesellschaft sind. Wir machen eine große Werbekampagne, die an alle Orte geht, wo Menschen sind, um ihnen zu sagen: Hier wird über dieses Thema gesprochen. Und wir haben keine Scheuklappen, wen wir einladen. Dann gibt es aber auch keine Denkverbote.

Ich kann als Kirche nicht sagen, ich initiiere einen Gesprächsprozess, ich lade aber nur Leute ein, die die Kirchen-Insider-Meinung wiedergeben. Das geht dann nicht. Man muss als Kirche ein Risiko eingehen, wenn man der Ort sein will, an dem Werte diskutiert werden. Wir haben in den Nachtschichten zwischen 500 und 600 Gäste. Die finden das gut, und die kommen in die Kirche, wenn sie merken: Hier wird nicht nur belehrt, sondern hier versucht man auch, voneinander zu lernen und ins Gespräch zu kommen.


 

Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de, zuständig für die Ressorts Gesellschaft und Wissen, und schreibt das Blog "Angezockt".