Experteninterview: Mama redet nur noch von Erleuchtung

Experteninterview: Mama redet nur noch von Erleuchtung
Wenn Menschen sich und ihr Leben auf einmal neu erfinden, als Anhänger eines neuen Glaubens oder einer Sekte, zieht das auch Brüche im sozialen Umfeld nach sich. Angehörige reagieren verstört bis hilflos, wenn sie die eigenen Kinder oder Eltern nicht mehr wiedererkennen. Die Gefahrenlage einer solchen Situation wird von beiden Seiten durchaus unterschiedlich eingeschätzt. "Wir leben in einer multireligiösen Gesellschaft", sagt Michael Utsch von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen und benennt im Interview die Herausforderungen, die damit einhergehen.
03.02.2010
Das Interview führte Kathrin Althans

evangelisch.de: Mit was für Anliegen wenden sich Angehörige von Menschen, die sich sehr eng an eine Glaubensgemeinschaft gebunden haben, an Beratungsstellen?

Michael Utsch: Es gibt im Grunde zwei wesentliche Anlässe: Zum einen massive Veränderungen der Person, die einem unerklärlich sind. Verhaltensauffälligkeiten, sozialer Rückzug, Gedankengebäude, die als utopisch oder weltfremd wahrgenommen werden. Und ein zweiter Grund: finanzielle Probleme. Viele Gruppenangebote kosten Geld, gerade im alternativen Gesundheitssegment, wenn es um Meditation oder irgendwelche therapeutischen oder pseudotherapeutischen Verfahren geht.

evangelisch.de: Inwieweit sind Angehörige auch als Betroffene zu bezeichnen – wie wirkt eine solche Situation in familiäre Strukturen hinein?

Utsch: Da sind zunächst mal die Finanzen: Wenn man als Familie zusammengehört und das Familienbudget dadurch sinkt, ist man betroffen. Aber genauso durch das Gedankengut, was da reinschwemmt. Da sagen manche: Die Erleuchtungstheorien von Ramana Maharshi (indischer Guru, 30. Dezember 1879 – 14. April 1950, Anm. d. Red.), was der monatelang unter einem Baum sitzend für Erfahrungen gemacht hat, das interessiert mich nicht, damit möchte ich mich jetzt nicht beschäftigen – wenn davon aber jemand Nahestehendes so begeistert ist ...

evangelisch.de: ... dann ist das auch eine Entfremdung.

Utsch: Eine starke Entfremdung und eben auch der schmerzliche Verlust einer Beziehung. Man merkt: Früher hatte man gemeinsame Interessen, und jetzt auf einmal spielt dieses gemeinsame Erleben keine Rolle mehr. Die Anhänger kreisen nur noch um ihren Bewusstseinszustand und um irgendwelche Erleuchtungserfahrungen, die sie gerne machen möchten oder die sie angeblich gemacht haben. Und der soziale Rückzug kann dann bis zum Kontaktabbruch führen. Bei den radikaleren Gruppen wird entweder massiv darauf gedrungen, dass die Familie auch als Missionierungsobjekt angesehen wird - das heißt, die Angehörigen sollen möglichst auch dazu gebracht werden. Und wenn das nicht funktioniert, soll der Kontakt abgebrochen werden. Das führt in der Regel zu heftigen zwischenmenschlichen Konflikten.

Besorgte Angehörige wenden sich an Beratungsstellen
 

evangelisch.de: Das erklärt möglicherweise, warum die Mehrzahl der Anfragen bei kirchlichen oder staatlichen Beratungsstellen von Angehörigen ausgeht?

Utsch: Ja, ich würde das vergleichen mit einer Suchterkrankung: In dem Moment, wenn ein Mensch neu zu solch einer Gruppe hinzugekommen ist und sich da aufgehoben fühlt, geht's dem ja gut. Und insofern ist es in der Tat so, dass sich eher die Angehörigen melden und besorgt sind. Die Schwierigkeit ist dann, dass man so aktuell und schnell keine Veränderung herbeiführen kann. Es ist leider so: Es muss ein gewisser Leidensdruck da sein, die Leute müssen erkennen, dass die Angebote der Gruppe den Erwartungen nicht entsprechen, und dann muss ein langsamer Umdenkprozess eingeleitet werden.

evangelisch.de: Wenn Mutter, Vater, Verwandte oder enge Freunde feststellen, dass da jemand verstrickt ist in eine Sektenstruktur, dann gibt es ja normalerweise den Impuls: Ich will den da rausholen, das irgendwie aufklären und für Einsicht sorgen. Ist dieser Wunsch legitim – man hat es ja mit erwachsenen Menschen zu tun? Und wie groß ist die Chance, dass das gelingt?

Utsch: Ich kann das gut nachvollziehen, dass so ein Impuls entsteht, denn mit etwas Distanz sieht man ja doch häufig, wie hohl das Angebot ist, wie wenig hilfreich, und dass Menschen da Geld aus der Tasche gezogen wird. Allerdings ist dieser Impuls meistens wenig erfolgreich. Man kann die Situation mit einer Verliebtheit vergleichen: Wenn die Leute da erstmal gefühlsmäßig drauf angesprungen sind, dann geben ihnen dieses besondere Angebot, diese neuen Freundschaften, die neuen Werte und Lebensinhalte ganz viel und da kann man mit vernünftigen Argumenten wenig machen.

Dann ist es besser, die Beziehung zu den Personen zu behalten und im Zweifelsfall sogar über die strittigen Punkte gar nicht weiter zu diskutieren, weil das in dem Stadium wenig bringt. Häufig sehen die Betroffenen nach einer gewissen Zeit – das kann sich allerdings über Jahre erstrecken – doch ein: Das, was ich erwartet habe, trifft nicht ein, dort wird auch nur mit Wasser gekocht. Dann haben die aber viele Kontakte verloren, viele Freundschaften und fragen sich: Wie kann ich mich jetzt wieder sortieren? Das sollte man dann natürlich unterstützen und dabei helfen, das Leben in geordnete Bahnen zu bringen.

Starkes Selbstbewusstsein und stabiles soziales Netz


evangelisch.de:
Scheinbar reagieren Angehörige oft erst dann, wenn es "zu spät ist", wenn schon eine Distanz gewachsen ist, mitunter verstärkt durch die Lehre der Glaubensgemeinschaft, die ja auch eine Außenwelt konstruiert. Wann ist denn Hilfe möglich, wann sollte man eingreifen?

Utsch: Menschen, die ein starkes Selbstbewusstsein haben und in ein stabiles soziales Netz eingebettet sind, sind am ehesten geschützt gegen solche Gruppen. Wenn ich also merke, mein Kind ist sehr unsicher - was in gewissen Altersstufen aber auch ganz normal ist - dann würde ich schon immer gucken: Mit was für Leuten umgibt es sich? Wenn ich merke, der Sohn ist zwei-, dreimal die Woche mit irgendwelchen merkwürdigen Leuten zusammen, das würde mich dann schon interessieren. Das kann ich dann nicht immer unterbinden, aber ich kann schauen: Was sind Quellen, die sein Selbstbewusstsein aufbauen, die auf eine gesunde Art und Weise stärken.

evangelisch.de: Inwieweit kann man da bei Kindern und Jugendlichen vorbeugend wirken, damit die gegen die Werbung von Scharlatanen gefeit sind?

Utsch: Auf jeden Fall ist Information ganz wichtig: Was gibt es für Gruppen, was machen die? Wir leben ja heute in einer multireligiösen Gesellschaft, von daher ist es wichtig, dass man informiert ist und auch für sich selber klärt: Was habe ich für eine Position bezüglich Religion und Religiosität, wo verorte ich mich da? Es kann ja in der Familie durchaus interessant sein, miteinander zu sprechen und zu merken: Der eine ist da offener, für den ist Beten etwas relativ Naheliegendes und jemand anders sagt: Nee, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Man sollte natürlicher über solche Sachen reden. Und das Zweite ist eben dieses Selbstbewusstsein, dass ich gesunde Quellen für mein Selbstbewusstsein finde.

Schuldzuschreibungen führen zu nichts


evangelisch.de:
Wenn ihre Kinder in Abhängigkeit von einer Sekte geraten, machen sich Eltern ja möglicherweise auch Vorwürfe: Was habe ich falsch gemacht? Ist das auch ein Thema?

Utsch: Klar spielen Schuldgefühle eine Rolle. Aber es gibt da bisher kein einheitliches Muster, dass man sagen könnte: Weil in der Erziehung schon immer eine dominante Mutter vorherrschte, war jetzt eben eine Sekte nötig, um sich aus den Klauen dieser übergriffigen Mutter zu befreien. Solche Verhaltensmuster gibt es, aber man kann das nicht so pauschal sagen. Insofern führen Schuldzuschreibungen zu nichts. Für eine Suchterkrankung gibt es da schon klarere Muster und Erkenntnisse, das ist im religiösen Bereich nicht so einfach. Allerdings ist es sicher ein Manko, dass über existenzielle Fragen, also Schuld, Leid, Zufall, zu wenig geredet wird. Wenn Menschen da selbstbewusster wären und auch angeleitet werden, für sich selber eine Lebensdeutung zu entwickeln, dann ist man schon eher gewappnet.

evangelisch.de: Was sind denn in Ihren Augen die Ursachen, dass Sekten mit manipulierenden Strategien überhaupt Erfolg haben? Von außen betrachtet wirkt das ja oft sehr plump und simpel, was da angeboten wird.

Utsch: Da haben die Kirchen sicher auch so einige Versäumnisse einzugestehen. Es ist ja schon erstaunlich, was es an theologischer Literatur gibt, das Wissen und das denkerische Erfassen ist auf einem hohen Niveau. Aber es hapert daran, das 'runterzubrechen auf die Alltagserfahrung und klare ethisch-moralische Anleitungen zu geben. Warum ist es gut, bestimmte Spielregeln, Gebote zu halten? Das hat ja nichts mit "Spaßverderber" zu tun, sondern damit, dass es für meine Seele gut ist, wenn ich mich an bestimmte Regeln halte. Das alltagstauglich umzusetzen und auch sinnlich wahrnehmbar zu machen, da haben die Kirchen sicher einiges versäumt. Dann bieten solche Gruppen natürlich eine willkommene Möglichkeit, intensive Erfahrungen zu machen.

Spiritualisierung der Therapieangebote


evangelisch.de:
Wie sieht es denn aus mit den Angeboten und Gruppen, die sich auf dem sogenannten Psycho-Markt tummeln? Ist das auch verstärkt sektiererisch?

Utsch: Wir haben in den letzten Jahren so etwas festgestellt wie eine "Spiritualisierung der Therapieangebote". Das ist grundsätzlich erstmal verständlich, weil jahrzehntelang in Medizin und Psychotherapie alles Geistige verbannt und abgetan wurde als Parapsychologie oder übersinnliche Spekulation. Heute weiß man, dass auch die geistige Haltung zu etwas einen wichtigen Einfluss auf die Gesundheit hat. Wie ich mich zu den Fragen des Lebens stelle, hat auch etwas mit meinem Körper zu tun. Insofern ist es erstmal zu begrüßen, dass Psychologie und Medizin sich auch mit solchen Fragen beschäftigen. Nur andererseits ist das natürlich auch ein Einfallstor für Gurus und Scharlatane. Es gibt eben auch einen Markt von Scharlatanen, die dieses Bedürfnis nach Sinndeutung ausnutzen.

evangelisch.de: Wenn Angehörige versuchen, Einfluss zu nehmen auf den Anhänger einer Sekte und einschätzen: Da ist eine Grenze überschritten, da weiß einer nicht mehr so richtig was er tut. - Bringt das möglicherweise auch diese Angehörigen in Drucksituationen oder auch in Gefahr?

Utsch: Das erleben wir ja tagtäglich, dass hier betroffene Angehörige anrufen, sich informieren wollen und das ist auch wichtig. Und zum anderen gibt es Selbsthilfegruppen, wo sich Eltern untereinander austauschen können. Dass dann Eltern auch in eine Abhängigkeit geraten, ist eher selten. Aber man kann da schon viel falsch machen: Sei es durch absolut aggressives Kontern bis hin zu Gleichgültigkeit. Das erfordert Fingerspitzengefühl und Weisheit, damit richtig umzugehen. Und dafür gibt es ja kirchliche und staatliche Stellen, die als Ansprechpartner zur Verfügung stehen.


Dr. Michael Utsch ist evangelischer Theologe, Diplom-Psychologe und approbierter Psychotherapeut. Er arbeitet als wissenschaftlicher Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen und als Lehrbeauftragter an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität in Berlin.

Weitere Informationen: Was ist eine Sekte? - Kompaktinfos der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (pdf)

 

 

Dieses Interview ist erstmals erschienen am 3. März 2010.