Zwischen Alptraum und Apathie: Die Last der Überlebenden

Zwischen Alptraum und Apathie: Die Last der Überlebenden
Wer beim schweren Erdbeben in Haiti mit dem Leben davogekommen ist, trägt trotzdem an einer großen Last: Er muss das Beben, die Todesängste, die Zerstörungen, die Verluste verarbeiten. Experten rechnen daher mit vielen traumatisierten Menschen in dem Land.
21.01.2010
Von Christian Spöcker

Manche sind aggressiv, andere wirken völlig teilnahmslos. Wer das schwere Erdbeben in Haiti überlebt hat, ist oft bis ins Innerste seiner Seele erschüttert. Die Menschen haben Todesängste ausgestanden, Angehörige und Freunde verloren, ihr Haus liegt in Trümmern und die Zukunft ist ungewiss. Das kann schwere psychische Folgen haben. Experten rechnen mit vielen traumatisierten Menschen in Haiti, die auf Jahre hinaus mit Problemen zu kämpfen haben werden.

20 bis 50 Prozent der Überlebenden betroffen

Fachleute schätzen, dass 20 bis 50 Prozent der Überlebenden unter den psychischen Folgen einer Katastrophe leiden. Erdbeben wirkten sich besonders schlimm auf die menschliche Psyche aus, weil sich "das Sicherste in unserem Leben" als nicht zuverlässig erweise, meint der Neurologe und Psychiater Volker Faust, früherer Abteilungsleiter im Psychiatrie-Zentrum in Ravensburg (Baden-Württemberg).

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Die Symptome traumatisierter Mensch ähneln sich oft: Sie leiden vor allem an Schlafstörungen, Herzrasen, der Wiederkehr schlimmer Erlebnisse ("Flashbacks") und vereinzelt an Antriebs- und Teilnahmslosigkeit ("Apathie"), sagt der medizinische Berater der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen", Kai Braker.

Wie kann man Hilfe aussehen? Braker empfiehlt: Den Menschen zuhören und ihnen sagen, dass diese Symptome nach Katastrophen ganz normal sind. Sie sollen auch begreifen, dass das Erdbeben wissenschaftlich erklärbare Ursachen hat. Und die Wahrscheinlichkeit, dass es wieder eintritt, gering ist. Dies dürfte angesichts der Nachbeben allerdings nicht ganz leicht sein.

Wie eine Nation mit einer Katastrophe umgeht, hängt auch ein Stück weit mit ihrer Kultur zusammen. "Nach dem Tsunami haben wir beispielsweise vielen Menschen in der Region klar machen müssen, dass nicht böse Geister für die Flut verantwortlich waren", berichtet Braker über die Erfahrungen nach der riesigen Flutwelle Ende 2004 in Südostasien.

Opfer brauchen erstmal Zeit für sich

Die psychologischen Helfer müssen in Haiti behutsam und geduldig vorgehen. Claudia Evers von "Ärzte ohne Grenzen": "Wir haben es in anderen Fällen erlebt, dass die Katastrophenopfer erst mal Zeit für sich selbst brauchen, bevor sie sich für psychologische Hilfe von außen öffnen können."

Dies bestätigt die Trauma-Expertin Marion Krüsmann: "Es gibt immer wieder Betroffene, die wegen eines Schocks so neben sich stehen, dass sie die Hilfe gar nicht annehmen wollen", sagt die Münchner Psychotherapeutin. Nach dem Tsunami seien zum Beispiel traumatisierte Menschen aggressiv gegen Rettungskräfte geworden. Andere hätten schlicht resigniert.

Besonders hart trifft es die Kinder. Viele haben nachts Alpträume, wachen schreiend auf und sind kaum zu beruhigen. Werner Hilweg von SOS-Kinderdorf International beschreibt, wie Kinder das Erdbeben erlebt haben: "Es ist ein Bruch mit allem, was bisher vertraut war und für Kinder total destabilisierend." Das Allerwichtigste sei eine feste Bezugsperson, die ihnen signalisiere: "Ich bin für dich da." Im besten Fall sei das die Mutter.

Auch Helfer brauchen Hilfe

Wenn die Eltern ums Leben kamen, setzt Hilweg auf andere Verwandte, Nachbarn oder Erwachsene, die den Jungen und Mädchen eng vertraut sind. Im Notfall könne sogar ein Helfer zur neuen Bezugsperson werden, sagt der Psychologe und Psychotherapeut.

Doch auch für die Helfer und Journalisten wird das Erlebte oftmals unerträglich. Sie müssten die schrecklichsten Bilder von Zerstörung und Leichen verarbeiten, die man sich vorstellen könne, sagt Sören Petry vom katholischen Malteser-Hilfsdienst. Der Experte für psychosoziale Notfallversorgung weiß, dass Helfer nach ihrer Rückkehr oft an Schlaflosigkeit und Reizbarkeit leiden. Er rät zu professioneller Hilfe, wenn dies mehr als vier Wochen andauert.

Auch ein anderer Faktor ist nicht zu unterschätzen: "Da kommt vielleicht das Gefühl, dass man nicht so helfen kann, wie man gerne wollte", sagt Horst Hanau, Fachberater der evangelischen Johanniter-Unfallhilfe und fügt hinzu: "Gespräche helfen bei der Entlastung der Seele."

epd