Mexiko im Drogenkrieg: Ein Land geprägt von Kriminalität

Mexiko im Drogenkrieg: Ein Land geprägt von Kriminalität
7.026 ermordete Menschen: Das ist die erschreckende Bilanz des Drogenkriegs in Mexiko allein in diesem Jahr. Dabei wurden allein in den vergangenen sieben Wochen 1.000 Menschen getötet, wie die Zeitung "El Universal" berichtet. 2007 waren rund 3.700 und 2008 etwa 6.300 Menschen ums Leben gekommen - die Zahl der Morde und "Hinrichtungen" durch die Banden der Kartelle ist also erneut dramatisch gestiegen, obwohl Präsident Felipe Calderón mehrere zehntausend Soldaten in diesen Krieg geschickt hat. Persönliche Erfahrungen und Hintergründe.
08.12.2009
Von Ralf Peter Reimann

Karibische Strände im Süden, Drogenkrieg im Norden des Landes; Piña coladas an der Strandbar und Schießereien in Restaurants: Bestimmten bis vor einigen Jahren noch touristische Attraktionen oder folkloristische Bilder aus Filmen das Bild Mexikos in deutschen Medien, rückte in jüngster Zeit die Gewalt und der Drogenkrieg in den Mittelpunkt der Berichterstattung. Wird Mexiko ein neues Kolumbien?

Schussverletzungen sind mittlerweile die häufigste Todesursache bei jungen Männern, Drogenbosse kontrollieren das öffentliche Leben.

Auftragsmord im Restaurant

Die Familie meiner Frau lebt in dem nördlichen Bundesstaat Chihuahua. Er ist nicht nur wegen der gleichnamigen Hunde bekannt, sondern mittlerweise auch wegen der vielen Morde im Drogenkrieg. Während unseres letzten Besuches in Mexiko wurde ein Cousin Zeuge eines Mordanschlages in einem Restaurant. Die Auftragskiller stürmten in die Gaststätte, zielten auf Gäste an einem Tisch und verschwanden unerkannt. Diese Morde wurden nicht aufgeklärt. Erschreckend ist, dass fast jeder ähnliche Geschichten aus dem erweiterten Bekanntenkreis berichten kann. Der Drogenkrieg ist allgegenwärtig.

Video: 3Sat-Dokumentation "Mexiko - Drogen, Dollar, Depression" (bis DSL 1000)

Video: 3Sat-Dokumentation "Mexiko - Drogen, Dollar, Depression" (ab DSL 2000)

Ein an sich unbedeutendes Detail zeigt, wie weit die Gewalt in den Alltag eingedrungen ist. Neuwagen - so erzählte man mir - mit getönten oder verspiegelten Fensterscheiben dürften nicht mehr verkauft werden. Der Grund? Damit bei Kontrollen an Checkpoints das Auto von außen einsehbar ist und die Sicherheitskräfte nicht von gezückten Waffen überrascht werden.

Wer große Bargeldgeschäfte macht, gerät schnell in den Verdacht der Geldwäsche und der Zusammenarbeit mit Drogenkartellen. Ein anderer Cousin ist Autohändler und steht somit unter Generalverdacht, besonders, weil sich sein Geschäft gut entwickelt.

"Du bist der nächste"

Die Einschüchterung durch die Drogenmafia ist erfolgreich. Journalisten - oder auch einzelne Polizisten und Politiker, die sich um Aufklärung bemühen - erhalten Nachrichten wie "Du bist der nächste". Oft werden solche Botschaften auf Transparenten an Brücken aufgehängt. So zeigt die Drogenmafia deutlich ihre Macht.

Sich einzumischen kann tödlich sein, eine Kultur des Wegschauens und auch des Nicht-Wissen-Wollens greift um sich. Ein anderer Cousin fragte nicht bei seinem Nachbarn nach, als dieser sich auf den Pisten seiner Ranch nachts Verfolgungsjagden mit der Bundespolizei lieferte. Wenn der Nachbar ein "narco" ist, ein Drogenhändler, dann lässt man den unbefugten Zutritt auf die eigene Ranch geschehen, weil einem das Leben lieb ist.

Die Drogenbanden haben sogar einen eigenen Musikstil hervorgebracht, die "narcocorridos": eine Art mexikanischer Country-Musik, die die "narcos" als neue gesetzlose Helden verherrlicht.

Wirtschaftsmigranten als Mitarbeiter-Reservoir

Was ist passiert? Sicherlich hat das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA zwischen den USA, Mexiko und Kanada einen gewissen Anteil an der Entwicklung: Die offenere Grenze zu den USA, dem größten Absatzmarkt für Drogen, hat auch zur Folge, dass Drogenbarone den Norden Mexikos als Ausgangsbasis für den Absatz der Drogen ausgebaut haben. Das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen Mittel- und Nordamerika hat dazu geführt, dass Wirtschaftsmigranten aus Mittelamerika und dem Süden Mexikos sich im Norden Mexikos sammeln, um von dort den Sprung in die USA zu planen. Viele scheitern dabei und bilden so ein Reservoir an Menschen, für die schnell verdiente Dollars im Drogenhandel ein Ausweg aus ihrer wirtschaftlichen Misere zu sein scheinen.

Die Ursachen für die allgegenwärtige Gewalt aber liegen tiefer. Bis Ende der neunziger Jahre wurde Mexiko von der PRI regiert, der Partei der institutionalisierten Revolution. Die PRI, die länger regierte als die KPdSU in der Sowjetunion, war dem Namen nach sozialistisch ausgerichtet, in Wirklichkeit aber eine Staatspartei, die die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte integrierte. Oft war dieser Interessenausgleich nur durch Korruption möglich - mit Geld und Posten wurden die Vertreter der Interessensgruppen gekauft und eingebunden. Dies geschah auf allen Ebenen, bei staatlichen Behörden, halbstaatlichen Industrien, den Gewerkschaften und im Parteiapparat.

Grundmisstrauen gegenüber dem Staat

Die Folge dieses Regierungssystems ist ein tiefes Grundmisstrauen gegenüber Behörden, Polizei, Parteien und staatlichen Einrichtungen. Auch die Demokratisierung Ende der 90er Jahre hat diese Situation nicht wesentlich verändert.

Opfer einer Gewalttat gehen nicht zur Polizei - aus Angst. Stattdessen macht man der Polizeipatrouille, die die Sicherheit in der Nachbarschaft gewährleisten soll, kleine Geschenke, damit sie einen auf dem Weg zur Bank begleitet. Das staatliche Gewaltmonopol, so wie wir es in Deutschland kennen, existiert auf dem Papier, aber nicht in der Realität. Sicherheit muss man sich durch "mordidas", also Bestechungsgelder, bei der Polizei erkaufen. Ebenfalls haben private Sicherheitsdienste Konjunktur. Immer öfter tun Anwohner sich zusammen, riegeln ihr Wohngebiet ab und organisieren einen privaten Wachdienst für ihr Viertel. Auch wenn sich die Sicherheit im Innern des Wohnviertels erhöht, so zeigt diese Entwicklung auch, dass der Staat die öffentliche Sicherheit - auf den Straßen außerhalb solcher eingezäunten Viertel - nicht gewährleisten kann.

Kann das Militär Abhilfe schaffen?

Einzig das Militär genießt Ansehen in der Gesellschaft und steht nicht unter dem Generalverdacht der Korruption. Daher setzt die mexikanische Bundesregierung wesentlich auf das Militär im Kampf gegen die Drogenkartelle. Auf Autobahnen und Highways gibt es im Norden des Landes nun Checkpoints. Soldaten mit Gewehr im Anschlag kontrollieren jedes Auto und suchen nach Drogen und Waffen.

Kurzfristig mag der Militäreinsatz Sicherheit in einigen Bereichen herstellen. Um den Kampf gegen die Kartelle zu gewinnen, sind jedoch wirkliche Reformen notwendig.

Kampf gegen die "narcos" als Chance

Die "narcos" bedrohen die Stabilität, gleichzeitig ist der Kampf gegen die "narcos" auch eine Chance für das Land. Es wird immer deutlicher, dass das Militär alleine den Drogenkrieg nicht gewinnen kann. Die Demokratisierung der Gesellschaft muss sich fortsetzen. Statt einer Staatspartei gibt es nun drei Parteien, die um die Macht konkurrieren. Die Demokratisierung und die Reform der Gesellschaft dürfen sich aber nicht auf die Wahlmöglichkeit zwischen Parteien beschränken, sondern die gesamte Gesellschaft muss reformiert werden. Korruption in der Polizei lässt sich nur dann wirksam bekämpfen, wenn ein Polizist vom regulären Einkommen auch angemessen leben kann.

Eine unnötig aufgeblasene öffentliche Verwaltung, die zur Versorgung verdienter Funktionäre missbraucht wurde, muss effizienter gestaltet werden. Gleichzeitig muss auch hier das Gehalt für die Mitarbeiter ausreichend sein, damit sie nicht "mordidas" als Nebeneinkünfte kassieren müssen.

Bei meinem letzten Besuch habe ich auch Geschichten gehört, wie sich Menschen weigerten, diese Bestechungsgelder zu bezahlen. Einige Sachen ließen sich dann nicht so schnell regeln - aber sie erhielten letztlich doch, was ihnen zustand.

Zivilcourage kann auch so beginnen.


Ralf Peter Reimann ist Theologe und Informatiker. Er arbeitet bei evangelisch.de an der Schnittstelle zwischen Redaktion und Technik.