Die Verantwortung der Kirchen für ein dunkles Kapitel

Die Verantwortung der Kirchen für ein dunkles Kapitel
Wenn an diesem Donnerstag (5. November) in Berlin der "Runde Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren" zu seiner fünften Sitzung zusammenkommt, soll es um die Verantwortung der Kirchen für eines der dunkelsten Kapitel in der frühen Bundesrepublik gehen. Zahlreiche Kinder und Jugendliche sind von den 50er bis in die 70er Jahre hinein in Heimen misshandelt worden.
05.11.2009
Von Bettina Markmeyer

Viele ehemalige Heimkinder haben ihre Leidensgeschichte inzwischen öffentlich gemacht. Gefühlskälte, Arbeitszwang, Prügel und Demütigungen bis hin zu sexuellen Übergriffen in ihrer Kindheit und Jugend haben sie fürs Leben gezeichnet. Kirchliche Wohlfahrtsverbände und Orden führten drei Viertel der Heime und stellten zwei Drittel aller Heimplätze in der frühen Bundesrepublik. Waren grausame Methoden die Regel oder die Ausnahme? Wie viele Kinder und Jugendliche sind misshandelt worden, wie viele so schwer, dass sie Anspruch auf eine Entschädigung haben?

Diese Fragen stehen im Raum, doch wird es darauf voraussichtlich keine eindeutigen Antworten geben. "Wir wissen einfach nicht, wie viele Fälle es gab", sagt Johannes Stücker-Brüning von der katholischen Deutschen Bischofskonferenz. "Nach unserer Einschätzung sind es keine Zahlen von riesiger Größenordnung." Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, hatte im Juni dieses Jahres erklärt, "dass die Zahl der schlimmen und fragwürdigen Fälle im katholischen Umfeld eher gering ist und sich im unteren dreistelligen Bereich befindet". Nach empörten Reaktionen von Heimkinder-Vertretern musste die Bischofskonferenz diese Aussage relativieren: Es handele sich nur um die Fälle, die den katholischen Einrichtungen inzwischen bekannt seien.

Keine Einzelschicksale, sondern ein größeres Problem

Katholische Caritas und evangelische Diakonie haben über ihre Fachverbände jeweils ihre Einrichtungen befragt. Etwa ein Achtel der heute in der Erziehungshilfe tätigen katholischen Einrichtungen hat geantwortet, dass sie Kontakt zu ehemaligen Heimkindern haben. Von diesen 46 Einrichtungen sind wiederum etwa ein Viertel mit Vorwürfen über Misshandlungen von Heimkindern konfrontiert.

Auf evangelischer Seite sieht es ähnlich aus. Der Chef-Archivar des Diakonischen Werkes, Michael Häusler, nimmt auf der Basis der Diakonie-Umfrage in den heutigen Einrichtungen an, dass aus den evangelischen Heimen rund 300 Fälle bekannt sind, in denen Kinder und Jugendliche misshandelt wurden. Über eine Dunkelziffer will Häusler nicht spekulieren. Der Präsident des Diakonischen Werkes, Klaus-Dieter Kottnik, sagte im Mai dieses Jahres in Hannover, anfangs habe er von Einzelschicksalen gesprochen. Heute wisse er, dass das eine unzulässige Bagatellisierung sei.

Die Erhebungen werden erschwert dadurch, dass viele Heime und ihre Träger heute nicht mehr existieren, zahlreiche Akten vernichtet und die Taten verjährt sind und nur wenige der früheren Erzieher Auskunft geben können und wollen. Zwei will der Runde Tisch am Donnerstag anhören.

Pauschale Entschädigungen für die schlimmsten Heime?

Mit Blick auf die Entschädigungsfrage ist die Unklarheit über das Ausmaß von Misshandlungen in kirchlichen Heimen ebenso brisant wie es eine hohe Zahl von Opfern wäre. Ist die Zahl der Opfer gering, weil nur die berücksichtigt werden, die sich selbst melden, werden Spekulationen über eine hohe Dunkelziffer nicht abreißen. Nach Schätzungen von Bochumer Forschern, die im Rahmen eines Projekts, das von den Kirchen mitfinanziert wird, die konfessionelle Heimerziehung untersuchen, geht es insgesamt um rund 190.000 Kinder und Jugendliche, die zwischen 1950 und 1970 in evangelischen Heimen waren und rund 290.000 Zöglinge in katholischer Obhut.

Am Runden Tisch ist bereits diskutiert worden, ob es für besonders "schlimme" Heime pauschale Entschädigungen geben soll. Genannt wurden etwa Freistatt in Niedersachsen oder Glücksstadt in Schleswig-Holstein. Auch eine erste Orientierung über die Höhe von Entschädigungen ist versucht worden. Günter Saathoff von der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung Zukunft", die die ehemaligen NS-Zwangsarbeiter entschädigt hat, berichtete, 1,6 Millionen Opfern seien im Durchschnitt jeweils 2.630 Euro gezahlt worden. Der Verein ehemaliger Heimkinder, dem die Vertreter der Heimkinder am Runden Tisch nach einem Streit über die Einschaltung von Opfer-Anwälten nicht mehr angehören, hat 25 Milliarden Euro gefordert.

Der Runde Tisch will Ende dieses Jahres einen Zwischenbericht vorlegen. In seinem Abschlussbericht Ende 2010 wird er eine Antwort geben müssen auf die Entschädigungsfrage.

epd