Die Mauer, der Tod und ein stilles Grab

Foto: epd/Rolf Zöllner
Ein Foto von Chris Gueffroy an der Gedenktafel beim Britzer Verbindungskanal in Berlin.
Die Mauer, der Tod und ein stilles Grab
Chris Gueffroy wollte raus aus der Enge der DDR. Im Februar 1989 wagte er mit einem Freund die Flucht über die Mauer Richtung West-Berlin. Kurz vor dem Ziel wurden die beiden von 22 Schüssen niedergestreckt. Gueffroy starb auf dem Todesstreifen.
05.02.2014
epd
Karl-Heinz Baum

"Harmonie" heißen die Kleingärten am Britzer Verbindungskanal in Berlin zwischen den Stadtteilen Treptow und Neukölln. Bis zum 9. November 1989 teilte hier die Mauer Berlin in Ost und West. Neun Monate zuvor, am 5. Februar kurz vor Mitternacht, spielte sich hier vor genau 25 Jahren ein Drama ab. Vier Grenzsoldaten feuerten 22 Schüsse auf zwei unbewaffnete Flüchtlinge, die genauso alt waren wie sie selbst, auf die 20-jährigen Chris Gueffroy und Christian Gaudian.

###mehr-artikel###Die Geheime Verschlusssache der DDR-Grenztruppen nennt "23.39 Uhr" als Zeitpunkt für den Kugelhagel, der Gueffroy mit einem Schuss ins Herz tötete und Gaudian erheblich verletzte. Die Sterbeurkunde nennt "6. Februar 9.20 Uhr" als Todeszeitpunkt, offenkundig gefälscht, eine Übung der Staatssicherheit bei Flüchtlingen. Bei einem Herzschuss kann er da nicht mehr gelebt haben. Karin Gueffroy hörte nicht zum ersten Mal die Schüsse, die ihr stets den Schlaf raubten. Dass sie ihrem Sohn galten, ahnte sie am nächsten Morgen, als er nicht wie verabredet zum Frühstück kam.

Zwei Tage später erfuhr sie einen Teil der Wahrheit. "Ihr Sohn hat einen Anschlag auf eine militärische Einrichtung verübt. Er ist dabei gestorben." So umschrieb die DDR Fluchten über die Mauer. Die Mutter bekam einen Schreikrampf, rief immer wieder: "Sie haben ihn ermordet! Sie haben ihn ermordet!" Nur mit Mühe war sie zu beruhigen mit der Zusicherung: "Der Staatsanwalt wird alles genau untersuchen." Doch nach sechs Wochen stellte er fest: Alles sei mit rechten Dingen zugegangen. Eine Straftat liege nicht vor. Von nun an dürfe sie nicht mehr von Mord sprechen. Wer die Mauer überwinden wollte, war für die Herrschenden ein Verbrecher.

Schnüffler bewachen die Hinterbliebenen

Von da an übernahm die DDR-Staatssicherheit die Regie. Jeden Tag wurde Karin Gueffroy vorgeladen. Ein Bauwagen stand vor dem Haus, von dort beobachteten und filmten Schnüffler jede Bewegung auf der Straße. Der Staatsanwalt ordnete gegen ihren Willen an, den Sohn einzuäschern. Ein Begräbnisredner wurde vorbeigeschickt und fragte: "Warum hat sich ihr Sohn denn umgebracht?" Selbst ihm verschwiegen sie die Wahrheit.

Chris' Freunde beschlossen, eine Traueranzeige im SED-Blatt "Berliner Zeitung" aufzugeben. Sie wussten, "an der Mauer erschossen" durften sie nicht schreiben und wählten die Formulierung, "durch einen tragischen Unglücksfall getötet". Die Frau in der Anzeigenannahme, die wohl ahnte, wem die Anzeige galt, ersetzte "getötet" mit "von uns gegangen". Sonst hätte sie die Annahme verweigern müssen.

Protest beim Begräbnis

Karin Gueffroy wäre zu so einer Aktion nicht fähig gewesen, aber sie kam ihr recht. Nun wusste sie, ihr Sohn werde nicht wie andere Maueropfer zuvor klammheimlich verscharrt. Sie nahm sein Passbild, legte es in eine Streichholzschachtel, sagte einer Rentnerin, die täglich die Mauer passieren durfte: "Du musst zum Sender Freies Berlin und sagst: 'Das ist der Mauertote'." Die "Abendschau" meldete es für ganz Berlin. So schlugen sich an die 120 Leute trotz Absperrungen und Kontrollen zum Friedhof durch - ein stiller Protest mitleidender Mitmenschen. Auch vier westliche, in der DDR akkreditierte Journalisten kamen, berichteten und überführten den ersten Mann der DDR, Erich Honecker, der Lüge. Er hatte Westpolitikern gesagt: "An der Grenze ist es still!"

###mehr-links###Mitflüchtling Christian Gaudian hatte bei der Flucht seinen Ausweis weggeworfen und wurde deshalb im Krankenhaus noch gefoltert. Die Ärzte durften die Kugel erst entfernen, nachdem er unter Schmerzen seinen Namen nannte. Er wurde wegen "Grenzverletzung im besonders schweren Fall" mit drei Jahren Haft bestraft. Im Oktober 1989, kurz vor dem Mauerfall, kaufte ihn die Bundesrepublik frei.

Strafen zur Bewährung ausgesetzt

Die Mauertoten haben wesentlich zum Ende der DDR beigetragen. 1990 setzte sich Karin Gueffroy für die Bestrafung der Täter ein. Nicht nur Schützen, auch Befehlsgeber bis hinauf zum letzten Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz wurden bestraft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bestätigte die Urteile. Karin Gueffroy hat, wie andere, Probleme mit den zur Bewährung ausgesetzten Strafen für die Mauerschützen. Doch entscheidend sei der Schuldspruch für alle. "Als Mutter bin ich immer befangen. Aber ich bin nicht verbittert. Das hätte Chris nicht gewollt", sagt sie.