Frauenrechte in Tunesien auf dem Prüfstand

Foto: AFP/Fethi Belaid
Tunesische Frauen demonstrieren am 13. August 2012 in der Hauptstadt Tunis für Respekt und Frauenrechte.
Frauenrechte in Tunesien auf dem Prüfstand
Interview mit Elisabeth Braune von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis
Die tunesischen Frauen zählen zu den Emanzipiertesten in den Ländern des Maghreb. Doch mit dem Wahlsieg der islamistischen Ennahda-Partei ändert sich das politische Klima im Land. Zum Jahrestag der Einführung des Personenstandsrechts, das am 13. August 1956 in Kraft trat, gingen die Frauen auf die Straße, um für den Erhalt ihrer Rechte zu kämpfen. Über die aktuelle Situation in Tunesien und das Selbstverständnis tunesischer Frauen, haben wir mit Elisabeth Braune von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis gesprochen.

Tunesien galt lange Zeit als recht fortschrittliche Gesellschaft, insbesondere was die Rechte der Frauen angeht, und es schien so, dass alle damit einverstanden waren. Was passiert eigentlich gerade, Frauen gehen auf die Straße und demonstrieren für ihre Rechte?

Elisabeth Braune: Mit dem Wahlsieg der islamistischen Ennahda Ende Oktober 2011 wurde der tunesischen Gesellschaft ein Spiegel vorgehalten, der zeigte, dass dieser Konsens anscheinend nicht so weit verbreitet ist, wie viele gedacht hatten, und dass es gewissermaßen "zwei Tunesiens" gibt, die doch erheblich voneinander abweichen.

Wie macht es sich im Alltag bemerkbar?

Braune: Es ist so, dass religiöse Werte und "Sitte und Anstand", was auch immer im Einzelnen darunter zu verstehen ist, ein sehr viel höherer diskursiver Wert eingeräumt wird und sie derzeit gesellschaftlich neu verhandelt werden. So arbeitet die Ennahda seit ihrem Wahlsieg gezielt an einem gesellschaftlichen Umfeld, wo Männer sich völlig im Recht fühlen, Frauen, die einen Rock tragen oder ihre Schultern nicht bedeckt haben zu kritisieren oder sogar zu bedrängen. Das ist eine erhebliche Veränderung der bislang recht säkular geprägten und weitgehend gleichberechtigten tunesischen Gesellschaft, die sich in der Öffentlichkeit deutlich bemerkbar macht. 

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Sieht man mehr verschleierte Frauen auf den Straßen, als noch vor einigen Monaten?

Braune: Tatsächlich ist es seit dem Wahlsieg der Islamisten ein deutlich umgreifendes Phänomen, dass man nicht mehr nur bunte Kopftücher und den traditionellen weißen Umhang sieht – wie das auch vor allem in den ländlichen Regionen nicht unüblich war – sondern immer häufiger die in der Golfregion übliche Vollverschleierung. Der so genannte Niqab ist schwarz und lang und verhüllt komplett alles, außer den Augen, die nur durch einen schmalen Sehschlitz sichtbar sind. Neu ist auf jeden Fall die schwarze Farbe, die Form und auch die Vehemenz, mit der sich die Vollverschleierung in der tunesischen Gesellschaft Raum nimmt.

Waren denn eigentlich Frauen, die ein Kopftuch getragen haben, im eher säkular geprägten Tunesien unter Ben Ali diskriminiert?

Braune: Die Kopftuchfrage ist – nicht nur in Tunesien - sehr komplex. Es gibt berühmte Fotos aus den 50er Jahren auf denen der "Vater der tunesischen Unabhängigkeit" und erste Staatspräsident Habib Bourguiba Bäuerinnen ihren traditionellen weißen Umhang vom Kopf zieht, ihrer Emanzipierung also etwas „nachhilft“. Und über Jahrzehnte hinweg war es so, dass in der öffentlichen Verwaltung und in Abstufungen im öffentlichen Raum kein Kopftuch getragen wurde. Insofern gab es tatsächlich in Tunesien auch Frauen, die jahrelang für ihr Recht ein Kopftuch tragen zu dürfen, gekämpft haben.

Ändert sich die Situation nur für die Frauen oder auch allgemein?

Braune: Der gesellschaftliche Druck im Hinblick auf religiöse Werte und Traditionen konform zu gehen ist deutlicher spürbar, gerade jetzt während des Fastenmonats Ramadan, was bislang eine eher private und individuelle Entscheidung war.

Staatsgründer Habib Bourguiba. Foto: Wikimedia Commons

Welche Rolle haben die Frauen bei der Revolution in Tunesien gespielt?

Braune: Es gab bereits Anfang 2008 große Unruhen in der Bergbauregion im Landesinnern von Tunesien und viele sagen, wenn Facebook zu diesem Zeitpunkt schon verbreiteter gewesen wäre, dann hätte das bereits der Stein des Anstoßes sein können. Es waren damals insbesondere Mütter von arbeitslosen jungen Menschen, die auf die Straße gegangen sind und gesagt haben, das kann hier nicht so laufen. Die soziale Situation ist unhaltbar: wir fordern Würde und Arbeitsplätze für unsere Kinder. Die eigentliche tunesische Revolution Ende 2010 und Anfang 2011 wurde jedoch von vielen gemeinsam getragen, von Alt und Jung, und Männern und eben auch Frauen und starken Frauenorganisationen.

Wie haben sich die Frauen organisiert?

Braune: In Tunesien waren zivilgesellschaftliche Frauenrechtsorganisationen neben den Gewerkschaften einer der wenigen Räume, wo relativ kritisches gesellschaftliches Engagement möglich war. Es gab eine Art Staatsfeminismus, der in einem festgelegten Rahmen kritische Stimmen und vor allem auch aktive frauenpolitische Strukturen zugelassen hat, während zum Beispiel Menschenrechtsorganisationen im Regime Ben Ali erheblich weniger Freiräume hatten. Entscheidend ist aber vor allem das tunesische Personenstandsrecht, mit dem bereits 1956 ein Rahmen für die konkrete und gesetzlich verankerte Gleichberechtigung der Frauen begründet wurde Das ist auf den Gründungsvater Tunesiens, Habib Bourguiba, zurückzuführen, der eine sehr modernistische Vision hatte und auch umsetzen wollte. Doch auch vorher schon, im 19. Jahrhundert, gab es einige tunesische Intellektuelle, die das modernistische Projekt ganz stark mit der Bildung und der Gleichberechtigung von Frauen assoziierten und gesagt haben: wirtschaftlich und gesellschaftlich werden wir nur vorankommen, wenn wir dieser Hälfte unserer Bevölkerung gleiche Rechte einräumen.

Wie äußerte sich diese Gleichberechtigung zuletzt?

Braune: In weitgehend gleichen Löhnen, einem sehr hohen Anteil von Frauen im universitären Bereich, vielen Richterinnen und Polizistinnen, was ja auch in anderen Teilen der Welt nicht überall so selbstverständlich ist.

Nun hat ja die Arbeit an der Verfassung begonnen und ein Artikel soll lauten: Männer und Frauen sollen sich ergänzen. Wie interpretieren Sie das?

Braune: Der Entwurf des Artikel 28 lautet: "Der Staat gewährleistet den Schutz der Rechte der Frau und ihre Errungenschaften unter Achtung des Prinzips, dass die Frau den Mann innerhalb der Familie ergänzt und ihm bei der Entwicklung des Landes zur Seite steht." Das ist komplett inakzeptabel in mehrerer Hinsicht: Erstens ist da ganz klar eine Hierarchie angelegt, in der die Frau über den Mann definiert wird und ihn ergänzt. Problematisch ist zweitens die Kausalität, in der der Staat nur dann die Rechte der Frauen gewährleistet, wenn sie diese Rolle in der Familie einnimmt. Und zum Dritten gibt es eben eine starke Ausrichtung auf den familiären Rahmen. Das heißt, dass ledige Frauen oder Mütter dann im Prinzip über die Brüder, Väter, Söhne, also über andere Männer definiert würden.

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Wie sieht jetzt das weitere Verfahren aus?

Braune: Der eben zitierte Artikel ist ein Entwurf der Kommission "Rechte und Freiheiten", die genau wie fünf andere Kommissionen zu bestimmten thematischen Bereichen Entwürfe für die Verfassung erarbeitet hat. Diese Entwürfe basieren zum Teil auf Konsensentscheidungen innerhalb der Kommissionen, zum Teil gibt es – wie für besagten Artikel 28 – aber auch keinen Konsens bzw. sogar komplett anders lautende Alternativentwürfe. Alle diese Entwürfe werden nun von einer Koordinierungskommission gesichtet und zu einem ersten vollständigen Entwurf der neuen Verfassung zusammengefügt. Dieser wird dann Artikel für Artikel in der Verfassungsgebenden Versammlung abgestimmt. Es gibt von der selben Kommission ein Artikel 22, in dem die Gleichheit von Ehepartnern festgeschrieben wird. Und es gibt einen Artikel 21, in dem die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, ohne jegliche Diskriminierung festgeschrieben wird. Da herrscht ein offensichtlicher Widerspruch, so dass es zum Glück meiner Ansicht nach wenig wahrscheinlich ist, dass das einfach so durchgeht. Die Ennahda hat allein keine Mehrheit, und muss insbesondere in dieser Hinsicht mit erheblichem Widerstand der Opposition und selbst der Koalitionspartner, mit Protesten der Zivilgesellschaft sowie der internationalen Öffentlichkeit rechnen – so wie das jetzt eben auch passiert.

Wie ist die Position der weiblichen Abgeordneten zu diesem Thema?

Braune: Es gibt 49 weibliche Abgeordnete und 42 von ihnen gehören der islamistischen Ennahda-Partei an. Insofern muss man da schon genauer hingucken: Da gibt es sehr unterschiedliche Positionen und sehr unterschiedliche gesellschaftliche Entwürfe, die verhandelt werden. Im Übrigen auch unter den weiblichen Ennahda-Abgeordneten. Die Vizepräsidentin des Parlaments hat sich zum Beispiel im Zusammenhang mit der Diskussion um Frauenrechte ganz klar zu dem Personenstandsrecht von 1956 bekannt, während eine andere die Meinung vertrat, dass eine vollständige Gleichheit von Männern und Frauen sowieso illusorisch sei.

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Wie ist das Verhältnis zwischen Tunesierinnen und Frauen in den anderen Staaten der Arabellion?

Braune:  Was man sagen kann ist, dass im Hinblick auf das Personenstandsrecht unter den modernen feministisch-orientierten Frauen in Tunesien ein sehr starkes Sendungsbewusstsein vorhanden ist. Sie sind eine Avantgarde in der arabischen Welt und nehmen so eine ganz wichtige Rolle im Hinblick auf die Kolleginnen in den anderen Ländern ein. Aber momentan gibt es hier in Tunesien so viel Tagespolitik, was bestimmte Veränderungen angeht und da sind die Frauen natürlich vor allem auf die eigene Situation ausgerichtet. Das ist im Moment absolut prioritär.