TV-Tipp: "Tatort: Murot und der Elefant im Raum"

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28. Dezember, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Murot und der Elefant im Raum"
Der Film beginnt mit einem verlorenen Sorgerechtsstreit: Eva Hütter (Nadine Dubois) verliert vor Gericht, schnappt sich aber das Kind und macht sich aus dem Staub. Die umgehend eingeleitete Fahndung bleibt ergebnislos, denn Eva hat die Aktion sorgfältig eingefädelt, wäre da nicht die Erfindung eines Psychotherapeuten...

Die Vorstellung, im Kopf eines anderes Menschen gleichsam spazieren gehen zu können, ist faszinierend. Was beispielsweise für Organe der Staatssicherheit wie ein Wunschtraum klingen mag, ist in der Realität jedoch wenig erstrebenswert: Die Gedanken wären nicht länger frei. Dietrich Brüggemann (Buch und Regie) beschränkt sich in seinem "Tatort" jedoch auf die positiven Möglichkeiten dieses potenziellen Schreckensszenarios: Felix Murot (Ulrich Tukur) muss sich auf ein Wagnis einlassen, bei dem er erneut die Pforten der Wahrnehmung durchschreitet. 

Der vielfach ausgezeichnete Regisseur hat den Wiesbadener LKA-Kommissar schon einmal zu einer Grenzerfahrung genötigt: In "Murot und das Murmeltier" (2019) steckte der Polizist in einer Zeitschleife und erlebte immer wieder denselben mörderischen Tag. Im vierzehnten Fall schickt Brüggemann ihn auf einen Trip ganz anderer Art: Ein Psychotherapeut (Robert Gwisdek) hat eine Apparatur entwickelt, mit deren Hilfe man sein eigenes Unbewusstes erforschen kann. Die Erlebnisse ähneln einem Traum mit Symbolen, deren Bedeutung sich nicht auf Anhieb erschließt.

Prompt ist Murot erst mal verwirrt von den Dingen, die er im eigenen Jenseits erlebt hat. Die Erfahrung erweist sich später jedoch als außerordentlich hilfreich, denn die eigentliche Geschichte von "Murot und der Elefant im Raum" ist eine völlig andere. Der Film beginnt mit einem verlorenen Sorgerechtsstreit: Eva Hütter (Nadine Dubois) hat sich mindestens einmal zu oft als unzuverlässig erwiesen; von jetzt an soll sich ausschließlich der Vater um den fünfjährigen Benjamin kümmern. Kurzerhand schnappt sich die Mutter das Kind und macht sich aus dem Staub. Die umgehend eingeleitete Fahndung bleibt ergebnislos, denn Eva hat die Aktion sorgfältig eingefädelt.

Sie versteckt sich mit dem Jungen in einer abgelegen Waldhütte im Taunus, und alles wäre gut gegangen, wenn sie beim Kauf der Vorräte nicht die Nougat-Flips vergessen hätte. Weil der Junge untröstlich ist, fährt sie noch mal los, wird von einer Streife gesehen, braust davon, hat einen Unfall und liegt fortan im Koma; derweil ruft Benjamin im Wald vergeblich nach seiner Mutter. 

Abgesehen von dem kurzen Anfangseinschub mit Murots Trips uns Unbewusste entspricht der "Tatort" zunächst dem gewohnten Krimischema. Die Polizei sucht mit einem Großaufgebot nach dem Jungen, eine Regierungsrätin macht Druck, weil sie die bislang makellose Bilanz der Aktion "Kein Kind kommt zu Schaden" gefährdet sieht, aber der Taunus ist riesig, wenn es keinerlei Anhaltspunkte oder Hinweise auf das Versteck gibt.

In seiner Not hat Murot eine tollkühne Idee: Wenn es möglich ist, das eigene Unbewusste zu erforschen, dann sollte sich mit dem gleichen Gerät doch auch eine Verbindung zur Mutter herstellen lassen. Der Arzt lässt sich auf das Experiment ein, aber der erste Ausflug in den Kopf der Frau ist ernüchternd: Kaum ist Murot "drin", wird er von einer Gestalt im Gorilla-Kostüm attackiert; er hat schlichtweg übersehen, dass ein Eindringen ohne Einladung selbstverständlich als feindlicher Akt betrachtet wird.

Was nun folgt, ist eine stellenweise bizarre, in sich aber jederzeit plausible Abfolge irritierender Begegnungen: Erst missversteht Eva die Besuche dieses ihr völlig fremden Mannes als Anbahnungsversuch, dann empfängt sie ihn in Gestalt eines kleinen Mädchens. Trotzdem dauert es eine Weile, bis Murot klar wird, dass der Schlüssel zur Lösung der Titel eines Ratgebers ist, der sich seit Jahren auf den Bestseller-Listen hält: "Das Kind in dir muss Heimat finden". Als am Ende auch noch Murots Kollegin Wächter (Barbara Philipp) in Evas Gedankenwelt aufkreuzt, weil ihr Chef im Diesseits aufgrund eines Missgeschicks unpässlich ist, scheint Brüggemann seine Idee zu überreizen, zumal die Darbietung fast in Klamauk abrutscht, aber selbst jetzt gelingt dem Regisseur die Gratwanderung.

Mindestens so reizvoll wie die psychologische Ebene ist die optische Umsetzung der Exkursionen. Das Szenenbild erfreut immer wieder durch verblüffende Details. Nicht alle sind dabei so selbsterklärend wie der Bollerwagen voller Koffer, den Murot hinter sich her zerrt; einige der Ausstattungsgegenstände bleiben ein Rätsel, was die Fantasie natürlich erst recht anregt. Reizvoll ist auch die zunehmende Überschneidung von Traumwelt und Wirklichkeit, weil der Kommissar einige Eindrücke aus Evas Kopf mit in seinen Alltag bringt. Trotzdem bleibt "Murot und der Elefant im Raum" stets ein Krimi: Brüggemann erinnert regelmäßig daran, dass das Leben eines kleinen Jungen auf dem Spiel steht.