Gesetzliche Rente ist kein "kaputtes System"

Portrait Marcel Fratzscher
Bernd von Jutrczenka/dpa
Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Auch sein Institut hat Vorschläge für die Reform der Rente.
Wirtschaftsökonom Fratzscher
Gesetzliche Rente ist kein "kaputtes System"
Die gesetzliche Rente hat eine Zukunft, sagt der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher. Doch eben nur, wenn bald grundlegende Reformen umgesetzt werden.

Die Umlagefinanzierung sei richtig und gut, sagt der DIW-Chef im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Das ist ein ganz wichtiges Prinzip der Solidarität innerhalb einer Gesellschaft." Aber ohne grundlegende Reformen gebe es massive Probleme, das System künftig stabil zu halten. Dazu zählt Fratzscher unter anderem die Umverteilung von reichen Ruheständlerinnen und Ruheständlern zu Menschen in Altersarmut.

epd: Herr Professor Fratzscher, bei der Verabschiedung des Rentenpakets im Bundestag und auch schon davor wurden Forderungen laut, das Gesetz gar nicht zu beraten und abzuwarten, was die einzusetzende Rentenkommission für Vorschläge vorlegt. Wäre das folgerichtig gewesen?

Marcel Fratzscher: Ja, da stimme ich zu. Jetzt hat man aber Nägel mit Köpfen gemacht, die schon starke und auch sehr teure Vorgaben sind. Damit ist schon die Richtung vorgegeben, wie die künftige Rente aussehen soll. Ich fürchte, es wird nicht so leicht sein, diese Reform später nach Vorgaben der Rentenkommission wieder zurückzudrehen. Die Motive dahinter sind wohl eher, zu zeigen, dass man was macht in Sachen Alterssicherung und auch die eigene Wählerklientel bedient. So droht also in einem Jahr statt einer großen und umfassenden Rentenreform wieder Stückwerk beim Nachjustieren. Es war nicht nötig, jetzt schon Pflöcke einzuschlagen.

"Das Rentenpaket wird zum Problem"

Es gibt ja viele Verteidiger dieses Rentenpakets, und sogar die Linkspartei in der Opposition hat sich in der Abstimmung enthalten, weil es sonst zu einem Absinken des Rentenniveaus gekommen wäre...

Fratzscher: Das mag die Linke so sehen. Doch darauf kommt es gar nicht an. Wenn man mal grundsätzlicher auf die nötigen Linien künftiger Rentenpolitik blickt, dann sieht man erst, warum dieses Rentenpaket zu einem Problem wird. Die künftige große Rentenreform muss in die Richtung laufen, dass Geld eingespart wird oder eben von mehr Personen Beiträge eingezogen werden. Bei der demografischen Entwicklung, die sich in den nächsten Jahrzehnten vollzieht, ist das schlicht unumgänglich. Stattdessen ist jetzt das genaue Gegenteil beschlossen worden. Das Rentenniveau von 48 Prozent wird weiter beibehalten, auch über 2031 hinaus soll es keine größere Absenkung geben, die Mütterrente kommt und verschlingt zusätzlich Milliarden. Dieses Rentenpaket konterkariert alle eigentlich nötigen Reformschritte.

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und auch Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) haben aber schon klargemacht, dass es nach dem Rentenpaket weitere grundlegende Reformen geben soll und wollen eine Kommission ohne Denkverbote arbeiten lassen.

Fratzscher: In der Theorie klingt das gut. Aber wird es wirklich dazu kommen? Die Kommission ist nicht frei in ihren Überlegungen. Sie bekommt konkrete Aufträge, was zu prüfen ist, und da reden die Regierungsparteien schon ein Wörtchen mit. Es wird klare Vorgaben geben, was politisch gewollt ist.

"Ich befürchte, die Kommission wird gar nicht den Auftrag haben, unabhängig und frei zu denken."

Ich befürchte, die Kommission wird gar nicht den Auftrag haben, unabhängig und frei zu denken. Und da werden nicht nur Fachleute am Tisch sitzen, sondern auch Politiker und Politikerinnen. Ich bin gespannt, welche Ergebnisse aus der Expertenrunde kommen werden. Und schon jetzt wage ich zu bezweifeln, dass alle Reformansätze wirklich mehrheitsfähig sind. Erfahrungen aus der Geschichte mit anderen Kommissionen sprechen leider dagegen.

Seit dem Wochenende gibt es wieder neue Aufregung, weil sich Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) offen für die Idee gezeigt hat, statt eines starren und möglicherweise künftig höheren Renteneintrittsalters die Beitragsjahre zur Grundlage des Ruhestandsbeginns zu machen. Davon halten Sie nichts?

Fratzscher: Nein. Diese Idee entspringt einer falschen Logik. Die Beitragsjahre bestimmen die Rentenhöhe und nicht den Beginn des Ruhestandes. Längere Beitragszeiten werden honoriert mit einer höheren Rente. Dieser Vorschlag macht keinen Sinn. Wenn man wirklich bestimmte Personen früher in die Rente lassen will, müsste man das Rentenniveau senken. Aber genau das will ja die SPD verhindern.

Diskutiert wird ja auch, den Renteneintritt an die steigende Lebenserwartung zu koppeln. Ist das die Lösung?

Fratzscher: Das Eintrittsalter in die Rente muss verbunden werden mit der Lebenserwartung. Das verdeutlichen schon die Zahlen. In den zurückliegenden Jahren ist die Lebenswartung um acht, neun oder mehr Jahre gestiegen, das Renteneintrittsalter aber nur um weniger als zwei Jahre. Genau hier liegt das Problem. Wenn die Menschen immer länger Renten beziehen, dann wird die arbeitende jünger Generation immer stärker über Beiträge und Steuern belastet, um das System stabil zu halten. Dänemark hat das erkannt und das Renteneintrittsalter wegen der längeren Lebenserwartung auf 70 Jahre angehoben. Das ist ein wichtiges Element der Rentenpolitik, das man sich genauer anschauen sollte.

"Rentenbeginn muss flexibler werden"

Aber auch dort gibt es doch vermutlich Ausnahmen, etwa für bestimmte Branchen, oder für Personen, die länger arbeiten wollen.

Fratzscher: Ja. Und genau das ist ebenfalls richtig. Stichwort Flexibilität. Es gibt unterschiedliche Wünsche und unterschiedliche Fähigkeiten bei den Beschäftigten, wie lange sie arbeiten können und wollen. Ein Dachdecker wird nicht mit 70 Jahren noch auf dem Dach stehen können. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen gesund bleiben, um möglichst lange arbeiten zu können. Dann können sie vielleicht auch über das gesetzliche Renteneintrittsalter hinaus im Job sein und den Umfang ihrer Tätigkeit selbst bestimmen. Davon hätten Arbeitgeber und Arbeitnehmer etwas.

Mütterrente, Aktivrente, Frühstart-Rente: Sind das nicht alles eher marginale Korrekturen an einem kaputten System?

Fratzscher: Das System der gesetzlichen Rente funktioniert grundsätzlich. Von einem kaputten System würde ich nicht sprechen. Denn das zugrundeliegende System der Umlagefinanzierung ist richtig und gut. Das ist ein ganz wichtiges Prinzip der Solidarität innerhalb einer Gesellschaft. Was ist die Alternative? Dann müssten alle Menschen privat vorsorgen, von denen viele dazu gar nicht das nötige Geld hätten. Ziel muss es sein, das bestehende System auf Dauer funktionstüchtig zu halten, und dazu muss man an bestimmten Schrauben drehen. Die wichtigste Maßnahme ist, dass mehr Menschen in die Rentenkasse einzahlen. Dazu müssen eben auch mehr Menschen länger arbeiten und Beiträge bezahlen. Und auch Beamte und Selbstständige müssen Teil der Rentenkasse werden.

Aber kann man denn dabei stehenbleiben? Für viele Menschen reicht die gesetzliche Rente ja nicht. Vor allem Frauen leiden oft unter Altersarmut!

Fratzscher: Das stimmt. Das ist das Dilemma. Wir haben überdurchschnittlich viele Menschen, die im Alter in Armut leben. Und das in einer reichen Gesellschaft. Dieses Problem lässt sich nicht dadurch lösen, dass die junge Generation immer mehr zur Kasse gebeten wird. Die Lösung hier muss lauten, mehr von Reich zu Arm umzuverteilen.

Wie soll das aussehen?

Fratzscher: Wir vom DIW haben dazu schon Vorschläge gemacht. Mit einem "Boomer-Soli" für bessergestellte Ruheständler könnte man etwas zu dieser Umverteilung beitragen. Belastet würden die 20 Prozent der Ruheständler mit dem höchsten Einkommen. Wir haben für sie eine Sonderabgabe von drei oder vier Prozent auf sämtliche Alterseinkünfte, also auch auf Aktiengewinne, Mieteinnahmen und Erbschaften, vorgeschlagen, die dann an die 40 Prozent der einkommensschwächeren Rentnerinnen und Rentner fließen würde. Umverteilt würde ausschließlich innerhalb der älteren Generation, Jüngere blieben also weitgehend verschont.