Ökonom Fratzscher: Kirche bleibt unverzichtbar

Marcel Fratzscher Porträt
DIW Berlin / Photothek
"Kirche soll Vorbild sein" – Marcel Fratzscher über soziale Gerechtigkeit und Verantwortung.
"Wir brauchen einen anderen Sozialstaat"
Ökonom Fratzscher: Kirche bleibt unverzichtbar
Marcel Fratzscher gehört zu den bekanntesten Ökonomen Deutschlands. Er ist Politikberater und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2013 ist Fratzscher Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Im exklusiven Gespräch mit evangelisch.de erklärt er, warum soziale Gerechtigkeit für Demokratie überlebenswichtig ist – und welche Rolle die evangelische Kirche dabei spielen kann.

evangelisch.de: Wann haben Sie eigentlich angefangen, sich für soziale Wirtschaftsforschung zu interessieren – und warum haben Sie sich für diesen Weg entschieden, obwohl es sicher viele andere Möglichkeiten gegeben hätte?

Prof. Marcel Fratzscher: Ich glaube, zwei Erfahrungen haben mich besonders geprägt. Die erste war der Sport in meiner Kindheit. Ich habe Tischtennis gespielt – und für jemanden aus einem Akademiker-Haushalt wie mich war das ein komplett anderes Umfeld. Das war für mich sehr prägend und zugleich eine schöne Erfahrung. 

Die zweite Erfahrung machte ich nach meinem Master, als ich Mitte zwanzig zwei Jahre in Indonesien arbeitete. Während der Asien-Krise habe ich miterlebt, wie von einem Tag auf den anderen Armut, Obdachlosigkeit und Verzweiflung explosionsartig zunahmen. Das hat mir gezeigt, welche Macht Makroökonomik – also Geldpolitik, Wechselkurse, Inflation – über das Leben der Menschen und auch über Gesellschaft und politische Ordnung hat. Damals, während der Revolution, wurde der Präsident gestürzt, es kam zu bürgerkriegsartigen Unruhen. Diese beide Erfahrungen haben mich am stärksten geprägt. 

Anm. d. Red.: Die Asienkrise 1997/98 begann mit dem Zusammenbruch des thailändischen Baht und führte zu massiven Kapitalabflüssen, Währungsabwertungen und Bankenkrisen in ganz Südostasien. Indonesien traf es besonders hart: Der Rupiah verlor über 80 Prozent seines Werts, Unternehmen brachen zusammen, Millionen Menschen rutschten in Armut. Die wirtschaftliche Not löste Massenproteste aus – und schließlich den Sturz von Präsident Suharto nach mehr als 30 Jahren an der Macht.

Ist es nicht illusionär zu glauben, dass es so etwas wie soziale Gerechtigkeit geben kann? 

Fratzscher: Ich glaube, es geht nur mit sozialer Gerechtigkeit. Viele unserer aktuellen Probleme hängen damit zusammen, dass die Wirtschaftspolitik immer stärker in eine libertäre Richtung driftet: Der Staat wird ausgehöhlt, ihm wird für vieles die Schuld gegeben. Das führt dazu, dass antidemokratische Parteien gewählt werden und die Unzufriedenheit wächst, weil viele das Gefühl haben: In meinem Land, in meinem Umfeld geht es nicht gerecht zu. Es fehlt an sozialer Gerechtigkeit.

Deshalb bin ich überzeugt: Mehr soziale Gerechtigkeit ist der Schlüssel – für unsere Gesellschaft, die Wirtschaft, unser politisches System, für Freiheit und Demokratie.

Was macht Ihnen derzeit am meisten Sorge beim Thema soziale Gerechtigkeit in Deutschland? 

Fratzscher: Das sind verschiedene Punkte. Zum einen habe ich gerade ein Buch über die junge Generation und den Generationenvertrag geschrieben. Meine Sorge ist, dass wir ihr zu viel aufbürden. Hier ist eine Schieflage entstanden  – besonders bei der Chancengleichheit, wo die soziale Herkunft noch über vieles entscheidet.

Migration ist ein weiteres großes Thema. Viel hängt davon ab, wo man in Deutschland lebt: in einer strukturschwachen Region, in der die Daseinsvorsorge leidet, oder in einer starken. Das sind sicherlich ein paar der Aspekte, die wichtig sind.

Anm. d. Red.: "Nach uns die Zukunft – Ein neuer Generationenvertrag für Freiheit, Sicherheit und Chancen" von Marcel Fratzscher.

Wie wird sich der soziale Frieden aus Ihrer Sicht weiterentwickeln?

Fratzscher: Ich glaube, es wird noch ein Stück weit schlechter werden müssen, weil wir immer noch nicht erkannt haben, dass wir einen Kurswechsel in vielen Bereichen brauchen.

Gerade die Diskussion um eine Sozialstaatsreform zeigt das. Viele glauben, soziales Denken bedeutet Schwäche. Aber ich bin überzeugt, wir brauchen einfach einen anderen Sozialstaat. 

Wie könnte der konkret aussehen? Haben Sie Vertrauen in die Bundesregierung? 

Fratzscher: Ich sehe die Bundesregierung im Augenblick sehr kritisch, weil sie letztlich an existierenden Strukturen festhalten will. Sie kann sich beispielsweise nicht durchringen, Steuern zu erhöhen und klar zu sagen: Wir müssen mehr investieren – auch in Menschen. Dafür müssen starke Schultern mehr tragen. Doch das traut sie sich nicht. 

Wir müssen bei gewissen Privilegien – etwa bei Erbschaftsteuer, Spitzensteuersatz oder Immobilienvermögen – stärker zur Kasse bitten. Und das sehe ich sehr kritisch. Es gelingt uns allen und der Bundesregierung nicht, diese Tabus anzusprechen und zu adressieren. Ganz im Gegenteil: Durch einen Sozialstaatspopulismus werden ausgerechnet die verletzlichsten Gruppen ausgegrenzt und bei ihnen gekürzt. 

Wie groß ist denn der Vertrauensverlust der Menschen in Politik und Wirtschaft wirklich? 

Fratzscher: Der Vertrauensverlust ist enorm, die Stimmung extrem schlecht. Viele Umfragen zeigen, dass Menschen unsere Demokratie nicht mehr als für alle gewährleistet sehen. Sie haben kaum noch Vertrauen in Politik, Justiz, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder die Medien insgesamt. Das ist wirklich frappierend und besorgniserregend.

"Wir müssen die Altersarmut bekämpfen, indem wir die reichen Babyboomer stärker heranziehen"

Was müsste denn Ihrer Meinung nach konkret passieren, damit die Menschen wieder Vertrauen fassen? 

Fratzscher: Es braucht eine klare Vision – wohin wollen wir, was ist dafür nötig? Dazu gehören auch Ehrlichkeit und Transparenz. Ich bin überzeugt, dass man den Menschen viel zumuten kann, wenn man ihnen erklärt, warum.

Entscheidend ist die faire Verteilung der Lasten. Wenn alle das Gefühl haben, allein die Hauptlast zu tragen, dann ist natürlich die Akzeptanz viel geringer.

Auch der Boomer-Soli, den Sie vorgeschlagen hatten, wird nicht von jedem als gerecht angesehen. Was stellen Sie sich genau vor? 

Fratzscher: Na ja, der Boomer-Soli setzt bei der Altersarmut an, die in Deutschland überdurchschnittlich hoch ist. Wir können dieses Problem nicht lösen, indem wir die junge Generation immer stärker belasten – sie hat selbst große Sorgen.

Wir müssen die Altersarmut so bekämpfen, indem wir die reichen Babyboomer stärker heranziehen. Die oberen 20 Prozent würden drei bis vier Prozent ihres Einkommens abgeben, damit die unteren 40 Prozent bis zu elf Prozent mehr Einkommen haben.

Das ist sehr vereinfacht gesagt die Idee des Boomer-Soli. Es geht um Umverteilung innerhalb der älteren Generationen – von reich zu arm, und nicht von jung zu alt. 

Wie sind die Reaktionen auf diesen Vorschlag?

Fratzscher: Viel Empörung. Es heißt, die Älteren darf man doch jetzt nicht mehr zur Kasse bitten – sie hätten das erarbeitet, es gehöre ihnen. Stattdessen solle die junge Generation die Verantwortung tragen. Doch genau damit wird sie überlastet.

Nochmal zum Thema Klimagerechtigkeit: Welche Wege sehen Sie, um wirtschaftliches Wachstum und Klimaschutz miteinander zu verbinden?

Fratzscher: Klimaschutz, gute Wirtschaftspolitik und Wohlstand gehören zusammen. Ein Beispiel ist die Automobilindustrie: Die deutschen Hersteller werden Probleme bekommen, wenn sie am Verbrennungsmotor festhalten. Die Zukunft liegt in der Batterietechnik, die deutlich klimaschonender und CO₂-neutral ist. Wir müssen hier schneller vorankommen, wenn wir weiterhin Produktion und viele gute Arbeitsplätze in Deutschland sichern wollen.

Das lässt sich auf viele andere Bereiche übertragen: Stahlproduktion, grüner Stahl, alternative Mobilitätsformen oder Ernährung. Klimaschutz und wirtschaftlicher Wohlstand sind keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Medaille.

Wie kann das für die Unternehmerseite attraktiv sein? 

Fratzscher: Über die Bepreisung von CO₂ passiert schon viel. Hinzu kommt die Unterstützung von Innovationen. Hier kann der Staat eine Menge bewirken. Und eben auch global: Beispielsweise muss das Pariser Abkommen von vor zehn Jahren umgesetzt werden. Das sind gute Ansatzpunkte. 

Anm. d. Red.: Das Pariser Abkommen von 2015 ist der wichtigste internationale Vertrag zum Klimaschutz. Fast alle Staaten verpflichteten sich darin, die Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad, möglichst auf 1,5 Grad, zu begrenzen. Jedes Land muss eigene Klimaziele festlegen, regelmäßig verschärfen und die Umsetzung transparent machen.

"Auch ich habe mich gefragt, ob ich noch verantworten kann, in der evangelischen Kirche zu bleiben"

Jetzt nochmal ein anderes Thema. Wie sehen Sie denn die Verantwortung und die Chancen von Seiten der Kirchen? Haben die Kirchen auch etwas dazu beizutragen?

Fratzscher: Ja, die Kirchen spielen eine ganz zentrale Rolle für den sozialen Frieden, weil sie so viele soziale Einrichtungen betreiben, organisieren und unterstützen. Der Staat allein kann das nicht leisten – wir brauchen Einrichtungen für ältere Menschen, leistungsfähige Pflege und Treffpunkte, die soziale Teilhabe ermöglichen. Die Kirchen können zudem Menschen mobilisieren und zu ehrenamtlichen Engagement motivieren. Dabei spielt auch der Glaube eine Rolle: Er gibt Halt und Kraft und hilft den Menschen, mit Problemen zurechtzukommen – das ist ein wichtiger Beitrag für die Gesellschaft.

Wird Kirche dieser Aufgabe Ihrer Ansicht nach gerecht?

Fratzscher: Da gibt es sicherlich Verbesserungsbedarf. Die Kirchenaustritte steigen, und das ist nicht unbedingt ein Vertrauensbeweis dafür, dass Menschen sich engagieren oder bereit sind, ihre Kirchensteuer dafür zu zahlen. Ich würde mir natürlich wünschen, dass sich dieser Trend umkehrt.

Warum treten Ihrer Meinung nach so viele Menschen aus der Kirche aus? 

Fratzscher: Ich vermute, dass es nicht nur mit dem Glauben zu tun hat, sondern auch mit den Steuern. Es geht vielleicht darum, wie Kirchen sich organisieren, aber auch um die Missbrauchsfälle, auch in der evangelischen Kirche. Da habe auch ich mich gefragt, ob ich noch verantworten kann, in der evangelischen Kirche zu bleiben. Ich kann durchaus verstehen, wenn Menschen deswegen die Kirche verlassen. Kirche sollte Vorbild sein.

Aber Sie sind noch nicht ausgetreten. Und haben es auch nicht vor?

Fratzscher: Nein, ich bin in der evangelischen Kirche und bleibe es auch.