Filme erzählen Geschichten, die sich jemand ausgedacht hat. Das ist so selbstverständlich, dass es keiner weiteren Erklärung bedarf, im Gegenteil: Beruht ein Krimi auf Tatsachen ("True crime"), wird das stets besonders betont. Dieser "Tatort" aus Berlin mit dem originellen, wenn auch nur bedingt passenden Titel "Erika Mustermann" beginnt jedoch mit dem ausdrücklichen Hinweis, die Handlung sei frei erfunden – "inklusive der dargestellten Ausstattung und internen Abläufe der Bundesdruckerei".
Dass die Produktion keine Genehmigung bekommen würde, im Inneren des Unternehmens zu drehen, war von vornherein klar: Das bdr-Gebäude ist ein Hochsicherheitstrakt, wie im Verlauf des Films mehrfach betont wird, schließlich werden in dem Kreuzberger Unternehmen, das dem Staat gehört, unter anderem die deutschen Euro-Banknoten hergestellt. Das Kerngeschäft ist jedoch ein anderes, und darauf bezieht sich der Titel, aber das wird dem LKA-Duo Karow und Bonard (Mark Waschke, Corinna Harfouch) bei seiner vierten gemeinsamen Ermittlung erst später klar.
Zunächst scheint der Fall ohnehin in einem ganz anderen Milieu zu spielen: Der Fahrradkurier eines Lieferdienstes für Speisen und Getränke ist bei der Kollision mit einem Auto ums Leben gekommen. Seltsamerweise gibt es keinerlei Bremsspuren. Die Aussage der einzigen Zeugin ist nur bedingt hilfreich: Eine blinde Frau berichtet, der Wagen habe kurz angehalten und sei dann weggefahren. Laut Ausweis handelt es sich bei dem Opfer um Xavier Weberlein. Karow und Bonard überbringen der bestürzten Witwe die Todesnachricht. Während sie noch erzählt, dass ihr Mann keineswegs Kurier sei, sondern als selbstständiger Systemadministrator in der IT-Branche arbeite, kommt er quicklebendig nach Hause.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Schon allein dieser Knüller gleich zu Beginn ist verblüffend, zumal Hannes Wegener beide Rollen verkörpert, den Radfahrer wie den Informatiker. Weberlein hat seinen Ausweis vor einiger Zeit verloren. Die Befragung der Terminkoordinatorin beim Lieferdienst macht die Sache zu einem Fall für die Gewerbeaufsicht: Gleich drei Männer aus Venezuela haben unter dem falschen Namen sieben Tage die Woche rund um die Uhr Essen ausgeliefert. Damit ist aber natürlich nicht geklärt, warum Tomás Rey sterben musste, denn sein Tod war eindeutig kein Unfall, sondern Mord. Seltsamerweise ist sein Rucksack verschwunden, aber die Person im Auto wird es kaum auf das Essen abgesehen haben.
Reys Lieferfahrten haben ihn in letzter Zeit auffällig oft zur Bundesdruckerei geführt. Chat-Nachrichten ("Currywurst mit Corazón") zeigen, dass er ein Verhältnis mit einer Mitarbeiterin hatte, aber Annika Haupt (Annett Sawallisch) ist nicht irgendwer, sondern Schichtleiterin beim Sicherheitsdienst, weshalb Tomás im Gegensatz zu anderen Lieferanten die Schranke an der Einfahrt passieren durfte. Die Aufnahmen der Überwachungskameras offenbaren allerdings ein merkwürdiges Detail: Warum ist sein Rucksack beim Verlassen des Gebäudes deutlich schwerer als bei der Ankunft?
Die internen Abläufe der Bundesdruckerei mögen fiktionalisiert worden sein, aber Dagmar Gabler, an deren Drehbuch auch Josefine Scheffler und Thomas André Szabó beteiligt waren, hat ihr entsprechendes Szenario garantiert an der Realität ausgerichtet. Ungewöhnliche Vorkommnisse, erfahren Karow und Bonard vom Sicherheits-Chef (Andreas Schröders), würden erst ad acta gelegt, wenn sie restlos aufgeklärt seien, und zwar nach dem Vier-Augen-Prinzip.
Ohnehin sei alles doppelt und dreifach gesichert; zum Bereich der Gelddruckerei habe nicht mal der Finanzminister Zutritt. Natürlich kommt das triste Dasein der Fahrradkuriere ebenso zur Sprache wie die das Schicksal der drei Venezolaner, die aus einem Slum geflohen sind und sich nun illegal in Deutschland aufhalten. Ungleich interessanter und vor allem rätselhafter ist jedoch die bdr-Ebene, verbunden mit der Frage, ob sich Annika Haupt aus Liebe auf irgendwelche Machenschaften eingelassen hat; sollte dies der Fall sein, droht ihr eine Anklage wegen Landesverrats.
Regisseur Torsten C. Fischer hat gemeinsam mit Kamerafrau Julia Daschner dunkle und betont unbunte Bilder gewählt. Der komplexe Fall erfordert allerdings einigen Erklärungsbedarf, und Karows Befragungen sind gewohnt unsensibel. Davon abgesehen erfreut das Drehbuch nicht zuletzt durch die Figur des Leiters der IT-Kriminalistik, den Ben Hartmann als ziemlich schrägen Vogel verkörpert. An der Ausstattung seines Arbeitsbereich, der eher einem Kinderzimmer ähnelt, hatte Szenenbildnerin Carola Gauster womöglich noch mehr Freude als an der Rekonstruktion der Bundesdruckerei.


