In Chile geraubt, in Deutschland aufgewachsen

Héctor Mangelsdorff in Santiago de Chile
epd-bild/Malte Seiwerth
Hector wurde im Alter von fünf Monaten seiner Mutter weggenommen und knapp zwei Jahre später einem deutschen Paar zur Adoption übergeben - gegen den Willen seiner Mutter.
Zwangsadoption Zehntausender
In Chile geraubt, in Deutschland aufgewachsen
In Chile suchen bis heute Mütter nach ihren Kindern, die ihnen gestohlen und zwangsweise zur Adoption gegeben wurden. Ihre Töchter und Söhne wurden auch an Paare in Deutschland vermittelt.

Die ältere Frau blickt sichtbar nervös auf die Tür in der Ankunftshalle des Flughafens von Santiago de Chile. Mit einem neonpinken Pappschild in den Armen mit der Aufschrift "geliebter Sohn, mein Héctor" beobachtet Margot Ulloa die Fluggäste, die langsam aus dem Durchgang herauströpfeln.

Plötzlich steht Héctor Mangelsdorff in der Tür und blickt in die Menschenmenge. Als er sie sieht, geht er zielstrebig zu Ulloa, umarmt sie, und erste Tränen fließen über das Gesicht des 52-Jährigen. Die beiden sehen sich erstmals, seit Héctor seiner Mutter im Alter von fünf Monaten weggenommen und knapp zwei Jahre später einem deutschen Paar zur Adoption gegeben wurde - gegen den erklärten Willen Ulloas.

Kein Einzelfall

Héctor ist kein Einzelfall: Mehr als 20.000 chilenische Kinder wurden laut dem chilenischen Präsidenten Gabriel Boric zwischen den 70er und 90er Jahren an Adoptiveltern ins Ausland vermittelt - die meisten von ihnen unrechtmäßig. Allerdings ist bis heute unklar, wie hoch genau der Anteil der legalen Vermittlungen war. Auch die Zahl der nach Deutschland vermittelten Kinder ist unbekannt, da viele deutsche Jugendämter keine genaue Statistik zu Auslandsadoptionen führen.

Die Adoptiveltern Héctors, der gerne nur mit seinem Vornamen angesprochen wird, haben ihm nie verschwiegen, woher er kam. Sein Adoptivvater war damals im deutschen Generalkonsulat der südchilenischen Stadt Concepción stationiert. Man habe ihm gesagt, seine damals 16-jährige Mutter sei dort beim Betteln mit ihm aufgegriffen worden, erzählt Héctor. Daraufhin habe man sie in ein katholisches Kloster gebracht und ihr das Kind weggenommen.

Über die chilenische Opferorganisation "Hijos y Madres del Silencio" (Kinder und Mütter des Schweigens) fanden sich Mutter und Sohn nach 52 Jahren wieder. Die Annäherung sei schwer zu beschreiben, erzählt der Mann mit freundlichem Gesicht, Baskenmütze und überlegter Sprache. Irgendetwas zwischen Geburt und Tod, "nur eben auf eine 'gute' Art. Mit all den Schüben an Emotionen und Tränen".

Margot Ulloa begrüßt ihren Sohn Héctor. Er wurde ihr als Baby weggenommen. Es ist das erste Wiedersehen der beiden. Auf ihrem Pappschild steht: "Geliebter Sohn, mein Héctor"

Weniger Verantwortung für Arme

Der massenhafte Raub von Kleinkindern aus armen Familien war laut der Historikerin Karen Alfaro während der Militärdiktatur (1973-1990) ein übliches Vorgehen der Behörden. "Man sah darin eine praktische Art und Weise, sich seiner Verantwortung für arme Menschen zu entledigen." Nach dem Putsch im September 1973 schlitterte das südamerikanische Land im Zuge neoliberaler Reformen von einer Wirtschaftskrise zur nächsten. Es herrschte Massenarbeitslosigkeit, und zeitweise war rund die Hälfte der Bevölkerung laut offiziellen Zahlen arm. Sozialprogramme gab es so gut wie keine.

"Es gab ein Netz aus Sozialarbeitern, Kirchenangehörigen und Richtern, die ideologisch mit der Diktatur verbandelt waren und sich über geltendes Gesetz hinwegsetzten, um die Kinder zur Adoption zu geben", erläutert Alfaro, die an der Universidad Austral der südlichen Stadt Valdivia lehrt. Teilweise wurde den Müttern bei der Geburt erzählt, das Kind sei tot auf die Welt gekommen. In den Gerichtsunterlagen wurde später behauptet, die Mutter habe das Neugeborene verlassen.

Im Fall von Héctor stellte ein chilenisches Gericht 1982 ein Dokument aus, das die Anerkennung der Adoption in Deutschland erleichterte. Darin hieß es, Margot Ulloa habe ihr Kind verlassen und habe deshalb nicht nach ihrem Einverständnis gefragt werden können. Das beweise, dass seine Adoptiveltern nicht ganz legal gehandelt hätten, erzählt Héctor bedacht.

Laut dem chilenischen Investigativportal Ciper zahlten Adoptiveltern damals durchschnittlich etwa 10.000 US-Dollar für die Vermittlung. Die chilenischen Behörden tolerierten und förderten das Treiben teils sogar bis in die 90er-Jahre, auch nach Ende der Diktatur. Statt die Jugendämter in den Empfängerländern über die Sachlage zu informieren, halfen viele Botschaften den suchenden Ehepaaren und schauten über falsche Aussagen in den Dokumenten hinweg.

Erst als die Mütter, die nach ihren Kindern suchten, den Druck erhöhten, nahm die chilenische Justiz Ermittlungen auf. Nach mehr als 30 Jahren wurden mehrere mutmaßliche Verantwortliche wegen Kindesentführung, Rechtsbeugung und Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt. Ein Gerichtsurteil von Anfang 2025 setzt zudem die Verjährung in einzelnen Fällen aus, da man davon ausgehen kann, dass es sich um Menschenrechtsverletzungen handelte.
Héctor sieht vor allem das Leid der Frauen. "Ich denke, die Aufarbeitung ist vor allem für die Mütter, die seit Jahrzehnten ihre Kinder suchen, sehr, sehr wichtig."