Hate Speech und Shitstorms, muss man ja leider sagen, gehören heute fast zum Alltag in sozialen Medien. Ab welchem Zeitpunkt ist das gefährlich und welche Arten von Angriffen beobachten Sie am häufigsten?
Claudia Otte-Galle: Jede Person, die angegriffen wird, muss selber entscheiden, wann die Situation aus dem Ruder läuft, wann sie Angst bekommt und wo sie eben eine Gefahr für sich verspürt. Manche Betroffene haben ein sehr dickes Fell und können viel einstecken, bevor sie Gegenmaßnahmen treffen oder sagen, jetzt ist die Grenze erreicht. Manche Personen fühlen sich bei eher weniger bedroht.
Es gibt Fälle, bei denen die Grenze zur analogen Welt überschritten wird. Bei denen durch Doxxing die Privatadresse veröffentlicht wird, Leute vor der Tür stehen und physisch bedroht werden. Hier besteht natürlich akuter Handlungsbedarf.
Am häufigsten kommt Hate Speech vor. Hasserfüllte Kommentare, beleidigende Kommentare, abwertende Kommentare. Häufig geht das in Richtung von rassistischen oder auch frauenfeindlichen Äußerungen und auch sexualisierten Aussagen. Wo wir eine sehr große Zunahme erleben, ist die bildbasierte digitale Gewalt. Fotos werden missbraucht und ohne Einvernehmen veröffentlicht.
Um welche Fotos geht es?
Otte-Galle: Es geht hier um zwei Dimensionen. Einmal um Fotos und Videos, die im privaten Kontext entstanden sind, intime Fotos, auf denen Frauen zum Beispiel nackt oder fast nackt zu sehen sind. Und dann erleben wir auch immer wieder, dass ganz normale Fotos von Netzwerken wie Instagram und Facebook geklaut und zweckentfremdet werden. Diese Fotos werden häufig missbraucht, um Fake Profile zu erstellen, die mitunter für Onlinebetrug genutzt werden.
Welche psychologischen und sozialen Dynamiken stehen denn hinter diesen Online-Angriffen?
Otte-Galle: Wir beobachten häufig, dass Ex-Beziehungspersonen dahinterstecken. Dies nennt sich dann Revenge-Porn, wenn es sich um veröffentlichte und sexualisierte Inhalte handelt. In seltenen Fällen verschaffen sich Täterpersonen zudem illegal Zugang zu Datenräumen und versuchen, mit Nacktbildern Geld zu verdienen. Es gibt Portale im Netz, die solche Fotos zum Kauf anbieten. Die Person, die die Fotos hochlädt und das Portal selbst verdienen damit.
Sind also Frauen stärker von digitaler Gewalt betroffen?
Otte-Galle: Sie sind definitiv stärker und anders von digitaler Gewalt betroffen. Häufig ist die Gewalt sexualisiert. Dies macht sie vor allem im Kontext bildbasierter sexualisierter Gewalt stärker betroffen.
Hat KI die Sache beschleunigt?
Otte-Galle: Ja, KI begünstigt die Manipulation natürlich und kann aus normalen Bildern sexualisierte Bilder machen: Gesichter können zum Beispiel auf nackte Körper montiert werden. Das Problem ist, dass es noch keine richtige Handhabe dagegen gibt. Es gibt keine Rechtsprechung dagegen, die sagt, es ist verboten, mit KI Bilder zu manipulieren. Häufig erkennen Plattformen manipulierte KI-Bilder auch nicht als solche.
Welche digitale Gewalt trifft Männer?
Otte-Galle: Sie sind von Hate Speech betroffen, von rassistischen Anfeindungen, von Rufschädigung. Sie können von Doxxing betroffen sein, von Mobbing und sind seltener auch von sexualisierter Gewalt betroffen.
Können Sie noch mal auf die Dynamik eingehen, die dahintersteht?
Otte-Galle: Mit orchestrierten Shitstorms sollen Personen eingeschüchtert und mundtot gemacht werden. Sie sollen aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt werden und sich einfach nicht mehr trauen, sich öffentlich zu äußern. Wir sehen, dass die Hasskommentare oft von den Algorithmen gepusht werden, dass heißt, ganz oft ganz oben stehen. Wir haben schon in vielen Shitstorms beobachtet, dass Leute viele Profile haben, unter denen sie sehr viele Kommentare abgeben, so dass es aussieht als stünden hinter diesen Kommentaren abertausende Leute. In Wirklichkeit ist das sehr häufig eine kleine Gruppe, die sehr aktiv ist und zum politischen Ziel hat, die Stimmen der Betroffenen zum Schweigen zu bringen.
Wie kann man sich einen koordinierten Shitstorm vorstellen?
Otte-Galle: Es gibt eine Gruppe namens Reconquista Germanica, die eine Zeit lang sehr aktiv war. Das ist eine Gruppe von Menschen, die sich zum Ziel gesetzt hat, Menschen im Internet zu mobben und Shitstorms zu erzeugen. Wir gehen davon aus, dass es mehrere solcher Gruppen gibt. Wir sprechen von einer rechtspopulistischen Bubble, die sich online verabredet oder Hinweise gibt, wo es sich gerade lohnt zu kommentieren. Wir beobachten, dass diese Leute häufig in geschlossenen Telegram-Gruppen kommunizieren.
"Im Internet gibt es keine Grenzen und das Internet vergisst auch nichts"
Lassen Sie uns über die Betroffenen sprechen. Welche psychischen und welche beruflichen Folgen haben denn diese Online-Gewaltangriffe?
Otte-Galle: Es ist tatsächlich so, dass die Auswirkungen digitaler Gewalt ganz ähnlich sind zu Auswirkungen von physischer Gewalt. Es ist häufig so, dass Betroffene unter Schock stehen und nicht wissen, was sie tun sollen. Dass sie sich in ihrer Autonomie eingeschränkt fühlen und unsicher sind. Mitunter entwickeln sie psychologische Symptome wie Angststörungen, Depressionen oder auch Schlafstörungen. Manche Personen sind dann auch nicht mehr in der Lage, ihren Job auszuführen. Sie fühlen sich sozial isoliert und haben einfach Angst, was als Nächstes passieren wird. Denn im Internet gibt es keine Grenzen und das Internet vergisst auch nichts.
Welche Strategien empfehlen Sie denn jemandem, der von digitaler Gewalt betroffen ist? Was hat der für Möglichkeiten, sich zu schützen? Und was kann ich als zum Beispiel Freundin tun, wenn ich so etwas bemerke? Also, wie helfe ich den Betroffenen am besten?
Otte-Galle: Wir empfehlen erst mal in einer akuten Situation, ruhig zu bleiben, einen Schritt zurück zu machen und sich dann in Ruhe zu überlegen, was mache ich als Nächstes.
Man sollte in der Akutsituation Unterstützung suchen, bei Freund:innen oder vielleicht auch in einer spezialisierten Beratungsstelle wie wir es sind. Im nächsten Schritt ist es hilfreich – für den Fall, dass ich Anzeige erstatten möchte – Beweise zu sichern, also auch Screenshots zu machen und sich gegebenenfalls dafür Unterstützung zu suchen. Wir raten davon ab, alles noch mal durchzulesen, weil das eine große Belastung ist.
Es gibt verschiedene Strategien, wie ich damit umgehen kann. Manchen Personen hilft es, Gegenrede zu betreiben, das heißt Kommentare nicht einfach so stehen zu lassen oder auch rigoros zu löschen. Das kann auch eine gute Methode sein, zu sagen: Ich will das hier nicht haben und das auch nach außen zu kommunizieren. Wir raten zu einer Anzeige, damit alles ordentlich dokumentiert ist und die Behörden sehen, dass und in welchem Umfang digitale Gewalt existiert.
"Wir bieten psychosoziale Beratung und entlasten Betroffene durch stabilisierende Gespräche"
Was würden Sie einer Social-Media-Redakteurin empfehlen, die mit einem Shitstorm konfrontiert ist?
Otte-Galle: Sie sollte auf die Netiquette verweisen und die auch durchsetzen. Kommentare löschen oder ausblenden.
Was macht HateAid genau?
Otte-Galle: Wir beraten nicht rechtlich, vermitteln aber rechtliche Beratung. Wir beraten Betroffene in Akutsituationen. Wir sagen, was nötig ist, um Anzeige zu erstatten, wie Beweise gesichert werden können. Wir unterstützen bei der Anzeigenerstattung und klären Betroffene über korrekte Beweissicherung auf. Wenn die Erfolgsaussichten ausreichend hoch sind, können wir im Einzelfall auch die Kosten eines Verfahrens übernehmen. Wir bieten psychosoziale Beratung und entlasten Betroffene durch stabilisierende Gespräche. Außerdem beraten wir auch zu digitaler Sicherheit und schauen konkret, welche Daten geben die Leute preis? Sind sie in einer akuten Gefahrensituation? Welchen Handlungsbedarf gibt es?
HateAid setzt sich zudem auf politischer Ebene für die Rechte Betroffener ein, stellt politische Forderungen und bringt ihre Expertise in den öffentlichen Diskurs und die Gesetzgebung ein.
An welchen Fall erinnern Sie sich am meisten?
Otte-Galle: Wir haben gerade eine neue Kampagne gestartet: #NotYourBusiness. Dahinter steht ein schlimmer Fall, in dem es um die illegale Verbreitung von Nacktbildern geht. Die Bilder sind nicht aus dem Netz zu bekommen und Google spielt hierbei eine große Rolle, da die Bilder über die Suchmaschine auffindbar sind. Das Unternehmen übernimmt keine Verantwortung und listet die Bilder nicht aus.
Diese Person hat analoge Konsequenzen zu tragen. Das Ganze kam bei ihrem Arbeitgeber an, sie musste den Job wechseln und im Prinzip ein ganz neues Leben anfangen. Aktuell machen wir über die oben genannte Kampagne auf den Fall aufmerksam und versuchen mittels Petition auch politischen Druck auszuüben. Die HateAid-Klientin hat Google verklagt. Wir unterstützen die Klage und sehen damit eine große Chance, Google zur Verantwortung zu ziehen.
"Wichtig ist: Nicht in Diskussionen verwickeln lassen. Ein klares Statement genügt"
Wie kann man eine respektvolle Diskussionskultur im Internet fördern, für eine positive Debattenkultur?
Otte-Galle: Ich möchte ungern die Verantwortung auf den Einzelnen legen. Es gibt großen Nachholbedarf bei der Gesetzgebung, gerade auch bei neuen Phänomenen wie Deepfakes oder Deepnudes. Eine einzelne Person, die digitale Gewalt erlebt oder beobachtet, kann Gegenrede betreiben."Hey, was du hier sagst, das ist rassistisch!" Oder: "Du verstößt gegen die Richtlinien." Oder: "Das ist Volksverhetzung, was du hier postest." Damit wird sichtbar gemacht, dass das nicht in Ordnung ist. Wichtig hierbei ist: Nicht in Diskussionen verwickeln lassen. Ein klares Statement genügt.
Interessant. Man neigt vielleicht auch dazu, sich nicht einzumischen, weil man die Diskussion nicht noch zusätzlich befeuern möchte. Meine letzte Frage: Kann Kirche etwas beitragen?
Otte-Galle: Ja. Ich denke es ist sehr wichtig, dass sich Kirche weiter einbringt in Themen wie digitale Gewalt und unsere Debattenkultur. Und sie muss an Nächstenliebe, Akzeptanz und Toleranz erinnern. Darüber hinaus kann sie Räume eröffnen, in denen Betroffene Gehör finden und Solidarität erfahren. Kirche hat die Möglichkeit, Haltung zu zeigen, Orientierung zu geben und Brücken zu bauen – gerade in Zeiten, in denen Polarisierung und Hass das gesellschaftliche Miteinander bedrohen.
Sie kann außerdem ihre Reichweite nutzen, um Bewusstsein zu schaffen, Verantwortung einzufordern und die demokratische Kultur zu stärken. Indem Kirche für einen respektvollen Umgang im Netz eintritt und gleichzeitig Menschen ermutigt, nicht zu schweigen, sondern für Würde und Menschlichkeit einzustehen, leistet sie einen wichtigen Beitrag, damit digitale Gewalt nicht normalisiert wird, sondern wirksam bekämpft werden kann.




