Fürs Erste muss sich Tobias (Name geändert) keine existenziellen Sorgen machen: In einem hellen Zimmer mit Bildern an der Wand lernt er einfache Dinge des Alltags wie das Öffnen und Schließen des Fensters neu. Langsam kehre auch der Gefühlssinn in seine taub gewordenen Glieder zurück, berichtet der 56-Jährige, der zuletzt wohnungslos war und deutlich älter aussieht: "Finger um Finger, Zeh um Zeh."
Nach mehreren Schwächeanfällen war er in eine Klinik eingeliefert worden, doch bleiben konnte er dort nur kurze Zeit. Jetzt ist er in einem der neuen Genesungszimmer des Mainzer Vereins "Armut und Gesundheit" untergekommen. Die von dem Obdachlosenarzt Gerhard Trabert gegründete Organisation hatte bereits vor mehr als zehn Jahren in Mainz eine Ambulanz für Menschen ohne Krankenversicherung eingerichtet.
Regelmäßig waren die dort tätigen Ärztinnen und Ärzte damit konfrontiert, dass ihre Patienten eigentlich viel zu krank waren, um auf der Straße wieder zu Kräften zu kommen. Daher hat der Verein nun einen ganzen Flur mit drei Krankenzimmern und einer Gemeinschaftsküche hergerichtet, betreut von einer Ärztin und einem dreiköpfigen Pflege- und Sozialarbeitsteam.
Patienten zu krank für das Leben auf der Straße
Daher können sich die Verantwortlichen bei "Armut und Gesundheit" vor Anfragen kaum retten, wie Projektleiter Marius Schäfer berichtet: "Wir wissen jetzt schon, dass wir viele Menschen ablehnen müssen." Obdachlose, die eine Grippe auskurieren wollten, hätten daher wohl keine realistische Chance auf einen Platz. Es gebe genügend Betroffene, deren Zustand erkennbar so schlecht sei, dass sie auf der Straße sterben könnten. Das können Patienten nach einem schweren Unfall sein, oder Menschen, deren Diabetes vollkommen entgleist ist.
In Deutschland gilt für Krankenhäuser eine Behandlungspflicht in akuten Notsituationen. Von dieser profitieren alle Menschen, egal ob sie versichert sind oder nicht. Gerade Wohnungslose hätten dennoch Probleme, eine Behandlung zu bekommen, berichtet der Leiter der "Ambulanz ohne Grenzen", Sebastian Maaßen. So werde die Frage, wann ein Notfall eingetreten ist, oft sehr strikt ausgelegt. Einen Anspruch auf Nachsorge haben wohnungslose Menschen ohne Versicherung ohnehin nicht. Angebote wie das von "Armut und Gesundheit" werden daher auch in einigen anderen Städten vorgehalten, etwa in Frankfurt am Main oder in Hamburg.
Hilfe beim Beschaffen von Unterlagen
Voraussetzung für die Aufnahme in die Mainzer Genesungszimmer ist, dass die Bewohner minimal mobil sein müssen und beispielsweise alleine auf die Toilette gehen können. Außerdem sollen sie sich einfaches Essen selbst zubereiten können. Eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung an allen Tagen in der Woche wie in einem Krankenhaus oder in einer Reha-Klinik kann der spendenfinanzierte Verein nicht bieten.
Was es - anders als in Kliniken - bei "Armut und Gesundheit" nicht gibt, sind strikte Vorgaben zur Verweildauer. Ziel sei es, dass die Menschen am Ende ihres Aufenthaltes nicht nur gesundheitlich einigermaßen stabilisiert seien, sondern gegebenenfalls auch Ansprüche auf Sozialleistungen oder wenigstens die Aufnahme in einer Obdachlosenunterkunft geklärt werden könnten, berichtet Sozialarbeiterin Johanna Kerber. Das dauere oft sehr lange, bedauert sie: "Wer auf der Straße lebt, hat häufig gar keine Unterlagen mehr."
Aktuell betreut Kerber etwa einen wohnungslosen Mann aus Polen, der keinen Ausweis mehr besitzt. Damit ihm das Konsulat in Köln einen neuen ausstellt, muss er mithilfe des Vereins erst eine Geburtsurkunde aus seinem Heimatland organisieren, was mehrere Monate dauert. Der Mainzer Verein fordert seit Jahren, dass das Gesundheitssystem solche Patienten auffängt, die bislang in ihrer Ambulanz stranden. "Wir sind nicht die Lösung, um dauerhaft solche Lücken zu füllen", findet Projektleiter Schäfer.




