evangelisch.de: Herr Lütz, Sie haben gesagt, die Kirchen zerlegen sich selbst. Was meinen Sie damit?
Manfred Lütz: Ich sehe eine Entwicklung, in der sich die Kirchen selbst schwächen, teilweise sogar schaden.
In Ihren Aussagen kritisieren Sie, dass die Kirche sich zu sehr auf Moral konzentriere und dabei den Sinn aus dem Blick verliere. Können Sie das erklären?
Lütz: Ich habe der katholischen Kirche einmal ein zehnjähriges Bußschweigen zu sexuellen Fragen empfohlen – weil ich überzeugt bin: In moralischen Fragen, besonders zur Sexualität, haben die Kirchen jede Autorität verloren. Die gesellschaftliche Moral in diesem Feld besteht heute aus einem Satz: "Freiwillige sexuelle Beziehungen welcher Art auch immer zwischen Erwachsenen sind erlaubt." Punkt. Wenn man davon abweichen will, braucht es gute Gründe.
Aber Kirchen äußern sich weiterhin regelmäßig zur Sexualmoral…
Lütz: Ja, es gibt zahlreiche Stellungnahmen, die nicht selten einfach wortreiche Verpackungen dieses einen Satzes sind.
Ihre Kritik geht aber über Sexualmoral hinaus. Sie sprechen von einer "Moralisierung der Gesellschaft". Was meinen Sie damit?
Lütz: Die Ersetzung von Religion durch Moral. Unsere gesellschaftlichen Debatten werden zunehmend moralistisch geführt, da gibt es dann nur Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Es geht dann nicht mehr um einen offenen kontroversen argumentativen Diskurs. Sondern wer sprachlich einen Fehler macht oder nicht "politisch korrekt" ist, landet am digitalen Pranger – und zwar nicht für zwei Stunden wie im Mittelalter, sondern für immer. Das erzeugt oft große Angst – und treibt Menschen in populistische Bewegungen.
Welche Folgen sehen Sie darin?
Lütz: Diese Menschen fühlen sich ausgeschlossen – und finden dann oft Anschluss bei extremen Gruppen, die – aus ganz anderen Gründen – auch am Pranger stehen. Mit der Zeit saugen sie die extremen Inhalte dieser Gruppen auf und so entsteht eine Dynamik, die brandgefährlich für unsere Demokratie ist. Jeder kann etwas tun, damit der Extremismus in Deutschland nicht zunimmt: Sich bemühen, andere nicht an den Pranger zu stellen! Indem er vielleicht einfach Jesu Rat beherzigt: "Liebet eure Feinde, tuet gutes denen, die euch hassen". Das funktioniert!
Kommt dabei das Thema "Sinn" zu kurz?
Lütz: Ja. Das Christentum ist nicht vorwiegend eine Moralanstalt, es hat etwas zu sagen zum Sinn des Lebens, auch zum ewigen Leben. Ich glaube, dass man den Sinn des Lebens buchstäblich sehen kann, zum Beispiel in großer Kunst. Darüber habe ich gerade ein Buch mit dem Titel "Der Sinn des Lebens" veröffentlicht. Mit Elke Heidenreich, die das Geleitwort geschrieben hat und die behauptet, Atheistin zu sein, führe ich spannende Diskussionen über Gott und Ewiges Leben. Darüber müsste Kirche mehr reden und nicht bloß über die üblichen Kirchenthemen.
Dennoch richtet sich die evangelische Kirche heute stark an Minderheiten. Ist das aus Ihrer Sicht nicht auch wichtig?
Lütz: Natürlich ist Nächstenliebe wichtig und Christen dürfen sich nicht darin erschöpfen, über den Sinn des Lebens nachzudenken, sondern das Christentum muss sich bewähren in der Zuwendung zu allen Menschen in Not, wie Papst Franziskus immer wieder betont hat. Freilich tun das auch Nichtgläubige und Christen, sollte man anmerken, dass sie es aus ihrer christlichen Überzeugung heraus tun.
Sie plädieren also für ein klares christliches Profil?
Lütz: Ja. Wenn Kirche nur noch für die Tapezierung des bürgerlichen Wohnzimmers mit schönen Liedern und festlichen Ritualen zuständig wäre, dann wäre sie nur noch so etwas wie eine untote Institution.
Aber Rituale geben vielen Menschen Halt. Ist das nicht auch wichtig?
Lütz: Klar, aber wenn die kirchlichen Rituale nur noch psychologische Hilfe gegen die Angst vor dem Tod geben, sind sie bloß noch Opium des Volkes, wie Karl Marx meinte.
Die Kirchenlandschaft ist heute sehr vielfältig. Gilt das nicht auch für die Wege, wie Menschen Zugang zum Glauben finden?
Lütz: Es gebe so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gebe, hat Papst Benedikt mal gesagt. Und im Christentum und auch im Protestantismus gibt es ein breites Spektrum von eher moralisch daherkommenden Lehren bis zum radikalen Glauben Karl Barths. Aber die Begegnung mit dem Glauben passiert fast immer über glaubwürdige Menschen – nicht durch "Angebote" wie im Supermarktregal.
"Sonst ist sie nur eine NGO unter vielen und schwächt sich selbst"
Was sagen Sie jemandem, der durch persönliche Not zur Kirche gefunden hat – weil sie sich offen gezeigt hat?
Lütz: Dem würde ich gar nichts sagen, sondern mich mit ihm freuen – und versuchen, von ihm zu lernen.
Und was ist Ihrer Meinung nach die wichtigste Aufgabe der Kirche?
Lütz: Menschen durch die Welt zu Gott zu führen.
Trotzdem gibt es politische Erwartungen – auch innerhalb der Kirche. Wie gehen Sie damit um?
Lütz: Die Kirche ist immer auch politisch. Aber sie muss aufpassen, dass man ihr anmerkt, dass sie aus dem Glauben an den menschgewordenen Gott heraus redet, sonst ist sie nur eine NGO unter vielen und schwächt sich selbst. Genau das hat übrigens jüngst Papst Leo gesagt und auch Julia Klöckner, deren Aussagen man dann übel verfälscht hat.
Und diese Botschaft hat auch gesellschaftlich noch Wirkung?
Lütz: Absolut. Ich habe viele Vorträge vor ganzen Oberstufen von Gymnasien über mein Buch "Gott – Eine kleine Geschichte des Größten" gehalten, und habe auch bei komplett atheistischem Publikum, z.B. im Osten, die spannendsten Diskussionen führen können. Das Christentum ist immer noch Fundament unserer gesellschaftlichen Werteordnung. Gregor Gysi hat gesagt, er sei Atheist, aber er habe Sorge, dass in einer gottlosen Gesellschaft die Solidarität verloren gehen könnte.
Denken Sie, dass uns Entwicklungen wie in den USA auch in Deutschland drohen?
Lütz: Durchaus. Auch bei uns ist die Gesellschaft gespalten und die drastisch antichristlichen Werte eines Donald Trump finden auch hier bereits Anklang.
Also braucht es heute mehr denn je ein glaubwürdiges Christentum?
Lütz: Ja, absolut. Wir brauchen Christen, die ihren Glauben sichtbar leben. Die mit Herz, Verstand und Überzeugung den Dialog suchen – auch mit denen, die anders denken. Nur so können wir Polarisierung überwinden und Orientierung geben.