Womöglich gibt es tatsächlich Menschen mit einer durch und durch reinen Seele, doch sie dürften rar gesät sein; alle anderen haben eine Schattenseite, die sie tunlichst verbergen. In der Regel bleiben diese Fantasien und Wünsche Hirngespinste, aber viele setzen sie auch in die Tat um; und so kommt das Böse in der Welt. Allein aufgrund seiner Erfahrung kann und will Felix Voss daher nicht glauben, was der beste Freund und die Mutter über Andreas Schönfeld erzählen: Angeblich war der Mann ein Mensch ohne Fehl und Tadel, stets zur Stelle, wenn man ihn brauchte, zu allen freundlich. Trotzdem hat ihn jemand erschlagen. Aber wer? Und vor allem: warum?
"Ich sehe dich" ist der elfte "Franken"-Krimi und der erste ohne Dagmar Manzel. Natürlich vermisst Voss die Kollegin, aber Max Färberböck, als Autor (gemeinsam mit Catharina Schuchmann) und Regisseur Schöpfer des "Tatorts" aus Nürnberg, hat für Ersatz gesorgt: Weil sich der Nürnberger Hauptkommissar auf denkbar unglückliche Weise das Schultergelenk gebrochen hat, wird kurzerhand ein Kollege aus dem Archiv als buchstäblich rechte Hand verpflichtet. Fred Kramer erweist sich allerdings als recht eigenwilliger Zeitgenosse, der nicht geduzt werden will und ansonsten nicht viel sagt; Sigi Zimmerschied ist als mürrischer und eher schlicht gestrickter Polizist bei seinem Gastspiel eine reizvolle Ergänzung zu Fabian Hinrichs.
Abgesehen von den wenigen heiteren Momenten, die sich aus dieser personellen Konstellation ergeben, erzählen Färberböck und Schuchmann eine durch und durch düstere Geschichte, die der Regisseur entsprechend umgesetzt hat. Die sichtlich durchdachte und betont unbunte Bildgestaltung ist ohnehin ausgezeichnet; gerade die wechselnden Perspektiven, aus denen Kamerafrau Daniela Knapp die Mitwirkenden zeigt, lassen den Film optisch aus dem Rahmen fallen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Inhaltlich gilt das nicht minder: Bei der Trockenlegung eines Feuchtgebiets wird die skelettierte Leiche eines vor rund zwei Jahren in zwei Meter Tiefe verscharrten Mannes entdeckt. Voss und sein Team brauchen dank einer entsprechenden Vermisstenmeldung nicht lange, um herauszufinden, dass es sich bei dem Toten um einen gänzlich unbescholtenen Fahrradhändler handelt. Der bei seiner Ermordung 37 Jahre alte Andreas Schönfeld ist nur ein einziges Mal aktenkundig geworden: als er zu schnell gefahren ist.
Ziemlich ungewöhnlich ist allerdings, dass er mit keiner einzigen seiner früheren Partnerinnen Sex hatte, nicht mal mit der Frau, der er einen kurz drauf wieder zurückgezogenen Heiratsantrag gemacht hat. Im Keller seines Elternhauses stößt Voss auf ein Fotolabor mit Aufnahmen vom "totalen Elend", wie der Kommissar irritiert kommentiert, aber eine zweite Entdeckung, die ein Kriminaltechniker nach dem Suizid von Mutter Schönfeld macht, ist ungleich beunruhigender: Im Zimmer des Mannes finden sich Speicherakten mit Hunderten Fotos von 14 Frauen, alle aufgenommen im Alltag und unbeobachtet aus sicherer Entfernung.
Eine nächtliche Archivrecherche, bei der Wanda Goldwasser (Eli Wasserscheid) den Verstoß gegen das Tempolimit mit Verbrechen kombiniert, fördert eine schockierende Wahrheit zu Tage: Schönfeld war offenbar ein Serienvergewaltiger, der zumindest einige der fotografierten Frauen entführt und tagelang gepeinigt hat. Weil er dabei maskiert war, konnten die Opfer keinerlei brauchbare Hinweise auf seine Identität geben.
All’ das ist im Grunde jedoch nur die nach und nach erzählte Vorgeschichte, denn bei der Suche nach Schönfelds Mörder helfen diese Erkenntnisse nicht weiter. Stattdessen sorgen Färberböck, Schuchmann und Co-Regisseur Daniel Rosness mittendrin für einen Bruch, als sich das Vorzeichen komplett ändert und der Film die Geschichte eines inniglich verliebten Paars (Mavie Hörbiger, Tonio Arango) erzählt. Hinsichtlich des Stils ändert sich allerdings nicht viel. Gerade die Kombination von Bild und Ton sorgt für eine durchgehend unbehagliche Atmosphäre.
Zu Beginn weckt das Sounddesign Assoziationen zu einem Wind, der unheilverkündend ums Haus schleicht. Eine spätere Szene, als Färberböck sein Publikum ohne Vorwarnung mit einer Panikattacke konfrontiert, könnte auch aus einem Horrorfilm stammen. Die gute elektronische Musik (Diego Noguera) wiederum, anfangs unbehaglich im Hintergrund dräuend, drängt sich an bestimmten Momenten ähnlich unvermittelt lautstark in den Vordergrund. Auf diese Weise entwickelt der Film im Zusammenspiel mit der dichten Erzählung optisch und akustisch eine Atmosphäre, die bis zum fesselnden Finale durchgehend für Spannung sorgt.