Wo das Weltall zum Greifen nah ist

Astronomischer Aussichtspunkt "Metalhenge" Bremen
epd-bild/Dieter Sell
Beeindruckende Sternenhimmel gibt es nicht nur in "Sternenparks", sondern auch an anderen Punkten wie dem "Metalhenge" in Bremen.
Sterneninsel Spiekeroog
Wo das Weltall zum Greifen nah ist
Unter den Lichtglocken der Städte ist der nächtliche Sternenhimmel kaum noch zu sehen. Das ist auf Spiekeroog bei klarem Wetter und im Herbst anders. Die Nordseeinsel gilt als einer der dunkelsten Orte Deutschlands.

Es ist ein ganz besonderer Spaziergang, den sich an diesem Abend mehr als 20 Frauen und Männer vorgenommen haben. Denn wer geht schon in die Dunkelheit? Doch genau darum geht es heute: Lange nach Sonnenuntergang startet die Gruppe in die Dünen von Spiekeroog. Sie will den Sternenhimmel über der Insel erleben. Mit jedem Schritt Richtung Badestrand wird es dunkler, der Gang vorsichtiger, tastender. "Wir lassen das Dorf und die Lichter der Zivilisation hinter uns", ermutigt Dark-Sky-Guide Jonathan Binder, in das Dunkel der Nacht im ostfriesischen Wattenmeer einzutauchen.

"Nach einer knappen halben Stunde haben sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt", beruhigt der Sternenexperte. Eine halbe Stunde vor Mitternacht werden alle Laternen auf der Insel abgeschaltet. Dann ist es zappenduster auf dem ersten Sternenspaziergang der Herbstsaison, den Binder nach der Sommerpause anbietet.

Dass der Umweltpädagoge ausgerechnet hier unterwegs ist, hat seinen Grund. "Spiekeroog ist nachts einer der dunkelsten Orte Deutschlands", sagt der Physiker und Astronom Andreas Hänel aus Georgsmarienhütte bei Osnabrück. Der Experte für Lichtverschmutzung in der bundesdeutschen Vereinigung der Sternfreunde hatte im April 2019 während einer nächtlichen Exkursion am Strand und in den Dünen die Helligkeit am Inselhimmel untersucht - und war überrascht: "Das waren die bis dahin weltweit dunkelsten Werte, die ich gemessen habe."

Rekordverdächtige Dunkelheit also. Mit Unterstützung vieler Insulaner gelang es, Spiekeroog von der US-amerikanischen Dark-Sky Association (IDA) als "Dunkelort" zertifizieren zu lassen. Das hat, wenn man so will, sogar Geschichte. Denn im Internat auf der Insel hat der Raketenpionier Wernher von Braun 1930 Abitur gemacht und als Schüler eine Sternwarte gebaut. Von Braun habe schon damals in einer Veröffentlichung vom Sternenhimmel über Spiekeroog geschwärmt, berichtet Hänel.

Das Band der Milchstraße mit bloßem Auge sehen

Seit August 2021 ist der Ort im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer offiziell IDA-"Sterneninsel". Unter günstigen Bedingungen spannt sich hier ein grandioser Sternenhimmel über die Dünen. Dann ist mit bloßem Auge sogar das schimmernde Band der Milchstraße zu sehen. Ähnlich gute Bedingungen wie auf Spiekeroog dokumentiert DarkSky International an acht weiteren Orten in Deutschland, etwa auf Pellworm an der nordfriesischen Küste, im Westhavelland, in der Eifel und auf der bayerischen Winklmoos-Alm.

Auf dem Sternenspaziergang mit Jonathan Binder ist es zwischenzeitlich dunkel geworden, richtig dunkel. Nur die Sterne machen sich rar, Wolken ziehen über das Firmament. Erst mit der Zeit lockern sie auf, geben den Blick auf den Nachthimmel frei, auf den Polarstern und Sternbilder wie den Großen Wagen. Die Gruppe ist begeistert, staunt über das funkelnde Himmelszelt. Das All scheint zum Greifen nah.

Tatsächlich zum Greifen nah?

"Die Entfernungen da oben sind unvorstellbar groß", sagt Binders Kollege Carsten Heithecker am Nachmittag vor dem Sternenspaziergang in einem Vortrag im Spiekerooger Nationalparkhaus Wittbülten. Er versucht aber doch, das Unfassbare fassbar zu machen. Heithecker hebt den rechten und den linken Arm, ballt die Hände zu Fäusten, einen Meter voneinander entfernt. "Wenn dieser Meter für den Abstand zwischen der Erde und der Sonne steht, dann wäre der unserem Sonnensystem nächstgelegene Stern Proxima Centauri 267 Kilometer entfernt", erläutert er.

Noch verrückter wird es, wenn es um die Zahl der Sterne geht. "Unsere Galaxie, die Milchstraße, soll etwa 100 Milliarden Sterne haben, vielleicht auch mehr", erklärt Heithecker. "Und es soll etwa 100 Milliarden Galaxien geben, mit insgesamt zehn Trilliarden Sternen, was einer 1 mit 22 Nullen entspricht." "Es heißt, es gebe mehr Sterne als Sandkörner auf der Erde", verdeutlicht auf dem Sternenspaziergang Jonathan Binder. Ein Tal in den Dünen gilt als "Dunkelort" der Insel. Nicht weit entfernt bietet der "Sternenkieker-Ort" zwei Holzliegen, von denen sich das Firmament entspannt beobachten lässt.

Mit seiner Gruppe ist Binder mittlerweile am "Utkieker" angekommen. Die Bronzefigur des Kölner Bildhauers Hannes Helmke auf der Kuppe einer Aussichtsdüne ist "dem unermüdlichen Wächter über das Kleinod Spiekeroog" gewidmet und markiert gewissermaßen den Gegenpol zum Dunkelort, den "Lichtort". Von hier aus ist zu sehen, wie hell selbst die dunkelste Nacht noch sein kann. Dafür sorgen die städtische Lichtglocke über Wilhelmshaven, 40 Kilometer entfernt, Positionslichter von Schiffen, rot blinkende Warnlichter von Windkraftanlagen auf dem Festland und sogar das Signal des 50 Kilometer entfernten Leuchtturms auf Helgoland.

Das künstliche Licht in der Nacht schadet dem ökologischen System. Denn Tiere und Pflanzen benötigen einen Hell-Dunkel-Rhythmus. "Umso wichtiger sind international anerkannte Regionen wie Spiekeroog, die sich verpflichtet haben, das künstliche Licht auf ein notwendiges Maß zu reduzieren", betont Physiker und Astronom Andreas Hänel. Dazu wurden auf der Insel unter anderem Leuchten neu ausgerichtet und deren Licht gedämpft. Mittlerweile gibt es im gesamten Nordseeraum ein EU-gefördertes Projekt, das von der französischen Küste in Brest über die Niederlande und Deutschland bis nach Aarhus in Dänemark reicht und übermäßigen Lichteinsatz weiter zurückdrängen will. "Dringend nötig", meint Hänel und freut sich: "Es geht weiter."