Der prominente deutsche Diplomat Christoph Heusgen hat sich dafür ausgesprochen, dass Deutschland jetzt offiziell einen palästinensischen Staat anerkennt. Er will "ein starkes Signal der Solidarität mit dem palästinensischen Volk senden." Großbritannien, Frankreich und andere Länder haben außerdem angekündigt, den Palästinenserstaat Anfang September anzuerkennen. Doch der Gazastreifen wird von der Terrororganisation Hamas geführt. Sie hält noch etwa 20 Geiseln gefangen – darunter bis zu sieben mit deutscher Staatsangehörigkeit – und duldet das Aushungern der eigenen Zivilbevölkerung. Dass irgendeine andere palästinensische Gruppierung dort das Ruder übernehmen könnte, ist nicht abzusehen.
Trotzdem ist Solidarität mit dem palästinensischen Volk notwendig. Gerade hat die "Internationale Vereinigung von Völkermordforschern" mit großer Mehrheit die Erklärung verabschiedet, Israel begehe einen Genozid im Gazastreifen. Darüber haben deutsche Medien (Stand 3.9.) kaum berichtet. Eine wichtige Rolle spielt die katastrophale Versorgungslage, und zu viele Zivilisten kommen durch israelischen Beschuss um. Hinzu kommt, dass die israelische Regierung nun die militärische Übernahme von Gaza-Stadt beschlossen hat und den Siedlungsbau im Westjordanland vorantreibt. Demgegenüber wäre eine Anerkennung des Palästinenserstaates ein wichtiges Bekenntnis zur Zweistaatenlösung. Aber: Es könnte leicht der Eindruck entstehen, Deutschland solidarisiert sich nicht bloß mit den Palästinensern, sondern belohnt den Terrorismus der Hamas. Unterdessen erstarkt der Antisemitismus in Deutschland. Was soll Deutschland also tun? Ich bin der Ansicht: Die Regierung Merz soll andere Maßnahmen ergreifen.
Die neue Situation
Die Regierung Netanyahu hat sich am 7. August dafür entschieden, Gaza-Stadt zu besetzen und außerdem ein neues, politisch besonders brisantes Siedlungsgebiet im Westjordanland für Israelis zu erschließen. Der israelische Generalstabschef hat offen gegen die Besetzung von Gaza-Stadt protestiert: Mit dem Strategiewechsel werde es Israel auch nicht gelingen, die Hamas auszuschalten und die Geiseln zu befreien. Anscheinend dient diese Maßnahme weniger der Bekämpfung der Hamas als vielmehr dem Ziel von Netanyahu, den Krieg in die Länge zu ziehen und seine angeschlagene Position zu sichern. Aber es ist nicht nur großes menschliches Leid absehbar, sondern auch die längerfristige israelische Besetzung von Gaza-Stadt und die weitergehende Zerstückelung der palästinensischen Gebiete. Damit verringert sich erneut deutlich die Wahrscheinlichkeit, dass es eines Tages doch noch zu einem Frieden zwischen Israel und einem souveränen palästinensischen Staat kommt (Zweistaatenlösung).
Alexander Maßmann wurde im Bereich evangelische Ethik und Dogmatik an der Universität Heidelberg promoviert. Seine Doktorarbeit wurde mit dem Lautenschlaeger Award for Theological Promise ausgezeichnet. Publikationen in den Bereichen theologische Ethik (zum Beispiel Bioethik) und Theologie und Naturwissenschaften, Lehre an den Universitäten Heidelberg und Cambridge (GB).
Trotzdem sehe ich eine Anerkennung eines palästinensischen Staates zum jetzigen Zeitpunkt kritisch. Deutschland hat gerade einen Exportstopp für Angriffswaffen beschlossen und hat noch andere Optionen, Israel zur Mäßigung zu bewegen. Wenn Heusgen dafür ist, ein "Signal" der Solidarität zu senden, muss er bedenken, wer diese Signale empfängt und wie sie jeweils verstanden werden. Die Anerkennung des palästinensischen Staates könnte durchaus wie eine Anerkennung der Hamas-Terroristen verstanden werden.
Deutsche Waffenlieferungen an Israel
Zu bedenken ist auch eine Maßnahme von Bundeskanzler Friedrich Merz: Er hat vor einem Monat beschlossen, die Lieferung von Angriffswaffen an Israel einzustellen. Teils wird das in Deutschland noch kontrovers diskutiert. Dabei übersehen viele, dass Merz zuvor die Regierung Netanyahu vor ihren neuen Maßnahmen gewarnt hat.
Ende Juli hat das israelische Parlament die israelische Regierung dazu aufgefordert, die Westbank zu annektieren. Eine Woche darauf reiste der deutsche Außenminister Johann Wadephul nach Israel und erklärte, Deutschland bejahe zwar, dass Israel die Hamas bekämpfe, doch Israel müsse die Versorgung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen deutlich verbessern: Die Lage sei "katastrophal" und "absolut dramatisch". Deutschland stehe unterdessen zu einer Zweistaatenlösung und würde einen palästinensischen Staat "eher" am Ende einer friedlichen Verständigung anerkennen. Doch der Friedensprozess müsse jetzt beginnen. Seine Verlautbarung schloss der Außenminister mit dem ominösen Satz: "Auf einseitige Schritte wird auch Deutschland gezwungen sein, zu reagieren."
Einen solchen einseitigen Schritt unternahm die Regierung Netanyahu dann, als sie am 7. August beschloss, Gaza-Stadt militärisch zu erobern und zu übernehmen. Sogar der Oberbefehlshabende der israelischen Armee hat das klar und offen kritisiert. Das ist die Situation, auf die Merz reagiert hat, indem er am Tag darauf einen Exportstopp von Angriffswaffen nach Israel verhängt hat. In seiner Erklärung kritisierte Merz die Versorgungslage im Gazastreifen und die neuen Pläne zur Übernahme von Gaza-Stadt und warnte vor weiteren Schritten in Richtung einer Annexion des Westjordanlandes. Die Entwicklungen gingen noch weiter, aber zunächst fragt sich: Was hat es mit dem Exportstopp von Angriffswaffen auf sich?
Einschätzung des Exportstopps
Merz hat erklärt: Mit der geplanten Übernahme von Gaza-Stadt schwindet vor allem die Hoffnung, dass es zu einer Freilassung der Geiseln und zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand kommt. Das neue Vorgehen des israelischen Militärs lasse auch nicht erkennen, wie die Hamas entwaffnet werden solle. Das leuchtet ein: Wenn Netanyahu eine Million Menschen geschundener Menschen aus Gaza-Stadt vertreibt, muss man fürchten, dass er die Menschen der Hamas in die Arme treibt.
Teils war Merz’ Entscheidung ein wichtiges Symbol. Genauso wichtig aber sind die realen Wirkungen des Stopps. Deutschland ist nach den USA Israels wichtigster Lieferant von Waffen. Das umfasst etwa Munition. Kriegsschiffe, die Deutschland nach Israel exportiert, sind aktiv am Krieg im Gazastreifen beteiligt. Besonders wichtig sind aber Bauteile für israelische Panzer, die Deutschland an Israel liefert. Die anderweitig zu beschaffen, ist keine ganz einfache Aufgabe für Israel. Immerhin hat der israelische Oberbefehlshaber gegen die Übernahme von Gaza-Stadt vorgebracht, die Armee sei "ermüdet" und das militärische Gerät müsse gewartet werden. Andererseits ergibt der Beschluss von Kanzler Merz durchaus Sinn, weiterhin solche Waffen zu liefern, die der Verteidigung Israels dienen. Dazu eignen sich etwa Bauteile, die Israel zur Abwehr von Luftangriffen einsetzt.
Merz selbst hat auch auf "das fortdauernde Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen" hingewiesen. Inzwischen hat eine unabhängige Organisation in einem größeren Bericht bestätigt, dass im Gazastreifen eine Hungersnot von "katastrophalem" Ausmaß herrscht. Hier gibt es zwar Debatten: Israel bestreitet das und weist auf umfangreiche Hilfslieferungen hin. Insgesamt leuchtet mir aber sehr ein, dass die Lage im Gazastreifen dramatisch ist. Zum Beispiel scheinen mir selbst die Transporte von Hilfsleistungen, die laut Israel verstärkt stattgefunden haben, nicht ausreichend. Und nun fordert Israels Militär auch noch eine Million Menschen auf, Gaza-Stadt zu verlassen, wo es immerhin Kanalisation, Obdach und eine gewisse medizinische Versorgung gibt.
Zudem hat nun die "Internationale Vereinigung von Völkermordforschern" mit großer Mehrheit die Erklärung verabschiedet, Israel begehe einen Genozid. Die Erklärung der Forschenden leuchtet mir ein, doch selbst Experten, die das bestreiten, räumen ein, dass Israel Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht. Dann aber ist der Export von Angriffswaffen nach Israel nicht nur unmoralisch, sondern widerspricht auch deutschen Gesetzen (Kriegswaffenkontrollgesetz gemäß Art. 26 GG).
Zweistaatenlösung
Zwei Wochen, nachdem Merz den Exportstopp von Angriffswaffen verkündet hat, am 20. August, beschloss die Regierung Netanyahu außerdem den Bau neuer Siedlungen, die das Westjordanland effektiv zweiteilen. Mit der Besetzung von Gaza-Stadt und den neuen Siedlungen wären die palästinensischen Gebiete nicht mehr nur wie bislang zweigeteilt, sondern stark beschnitten und mehrfach geteilt. Ein noch größerer Teil der Bevölkerung im Westen würde langfristig entwurzelt in Flüchtlingslagern leben. Die Zweistaatenlösung würde damit deutlich in noch weitere Ferne rücken. Dabei hat sich zum Beispiel Angela Merkel nachdrücklich für die Zweistaatenlösung ausgesprochen, schon bevor sie 2008 die deutsche Selbstverpflichtung zu Israels Sicherheit zur "Staatsraison" erklärte. Die Staatsraison kann sie nur im Rahmen einer Zweistaatenlösung gemeint haben.
Anerkennung ja oder nein?
Soll Deutschland in dieser Situation vielleicht doch bald den Palästinenserstaat anerkennen, um sich zumindest symbolisch auf die Seite der Palästinenser:innen zu stellen? Ich meine nicht. Zwar könnte die Anerkennung manchen Mut geben, doch insgesamt ist damit wenig gewonnen. Heusgen hat die Hoffnung, eine solche Anerkennung könne Israel als konstruktive Kritik durch einen guten Freund verstehen. Das halte ich für illusorisch. Nach dem Stopp bestimmter Waffenexporte wurde Deutschland hart kritisiert. Großbritannien dagegen möchte den Palästinenserstaat anerkennen, liefert Israel aber weiterhin Angriffswaffen, wie zum Beispiel Kampfflugzeuge. Doch selbst in dieser Situation hat Netanyahu den britischen Premier Keir Starmer hart kritisiert. Von der Anerkennung des palästinensischen Staates durch zahlreiche Nationen zeigt sich Israel nicht nur unbeeindruckt, es reagiert mit weiteren rechtsextremistischen Maßnahmen gegen die palästinensische Autonomie im Westjordanland: Wenn der Westen den Palästinenserstaat anerkennt, dann sorgt Israel dafür, dass von den palästinensischen Gebieten nicht mehr viel übrig bleibt.
Demgegenüber hat Deutschland auch andere Möglichkeiten, Druck auf Israel auszuüben. Man könnte auf andere Länder wie Großbritannien einwirken, ihrerseits den Export von Angriffswaffen auf Israel einzustellen. Verschiedene europäische Diplomaten setzen sich außerdem dafür ein, das Assoziierungsabkommen der EU mit Israel auf Eis zu legen, also einen weitreichenden Kooperationsvertrag. In einem sehr realen Sinn und nicht nur im symbolischen würde man so aufhören, israelische Kriegsverbrechen zu unterstützen. Wenn es sinnvoll erscheinen sollte, kann man Kooperation und Handel später wieder anlaufen lassen. Bei der Anerkennung des palästinensischen Staates dagegen habe ich schwere Bedenken, zugleich die Terroristen der Hamas anzuerkennen. Das wäre nicht nur in der deutschen Bevölkerung schwer vermittelbar, sondern mir scheint auch, dass es dabei ums Prinzip geht und nicht bloß um die Frage nach den praktischen Konsequenzen im Nahostkonflikt.