Selbst bittere Tragödien lassen sich von einer heiteren Seite betrachten; das ist die große Kunst des Erzählens. Tatsächlich sind die besten Komödien jene, die im Grunde ein Drama sind. Das gilt auch für diesen Freitagsfilm mit dem Titel "Per Anhalter zur Ostsee", der inhaltlich zwar zutrifft, der Seriosität der Handlung jedoch nicht gerecht wird. Kathi Liers erzählt in ihrer von Regisseurin Süheyla Schwenk mit leichter Hand umgesetzten Tragikomödie die Geschichte einer Frau, die seit acht Jahren mit dem ungeklärten Schicksal ihrer Tochter hadert.
Damals ist Anita spurlos verschwunden. Weil sie in einer Mitteilung von einer "kleinen Weltreise" schrieb, hat die Polizei die Nachforschungen alsbald eingestellt. Seither hofft Steffi Reimer (Anja Kling) auf ein Lebenszeichen. Ihre elfjährige Enkelin Nele (Maïmouna Mbacké) hat sie in dem Glauben gelassen, dass Anita irgendwann zurückkehren wird. Vor lauter Angst, nach der Tochter durch einen Unfall womöglich auch noch die Enkelin zu verlieren, hat sich Steffi im Lauf der Zeit zur "Helikopter-Oma" entwickelt.
All’ das ist jedoch gewissermaßen nur das Fundament, auf dem die Autorin das Gebäude ihrer ereignis- und entsprechend abwechslungsreichen Handlung errichtet hat. Der Hintergrund ist ernst: Jeden Tag werden hierzulande 200 bis 300 Menschen als vermisst gemeldet. Zwei Drittel dieser Fälle klären sich recht bald auf, aber drei Prozent der Personen bleiben verschwunden; oft für immer. Die Angehörigen leben jahrelang in einem Dauerzustand zwischen Hoffen und Bangen, sie sehnen sich danach, endlich Gewissheit zu erhalten; so oder so. Oft kommen, wie in diesem Fall, Selbstvorwürfe hinzu: Anita hat sich damals nach einem heftigen Streit mit Steffi aus dem Staub gemacht.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Wie es Liers gelungen ist, dieser Gemengelage eine gerade dank der kecken Nele stellenweise sogar witzige Geschichte abzutrotzen, ist bemerkenswert. Sie beginnt mit dem Titelbild einer Fernsehzeitschrift: Ani Kraus (Franziska Wulf) ist die Hauptdarstellerin der beliebten Serie "Immer mit euch", die sich auch Steffi gern anschaut, sie spielt darin eine Polizistin. Nele findet, Ani habe große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Der Artikel in der Zeitschrift bestärkt sie in dem Glauben, der TV-Star sei in Wirklichkeit Anita, auch das Geburtsjahr passt; da kann das Mädchen noch nicht wissen, dass Ani beim Alter kräftig geschwindelt hat.
Kurzerhand plündert Nele ihr Sparschwein und kauft sich eine Fahrkarte nach Hamburg, wo gerade eine weitere Staffel der Serie gedreht wird.
Steffi reist ihr umgehend hinterher, und jetzt beginnt jener Teil von "Per Anhalter an die Ostsee", dem der Film seinen Titel verdankt: In der festen Überzeugung, ihr Rucksack sei geklaut worden, während sie auf dem Klo war, landet Steffi ohne Gepäck, Geld und Telefon auf einem Autobahnrastplatz und dort im Lkw eines Fernfahrers, der sich als rettender Engel entpuppt. Spätestens jetzt zeigt sich, wie gut die Regisseurin ihr Ensemble zusammengestellt hat.
Sahin Eryilmaz ist einer jener vielen Schauspieler, deren Namen außerhalb der Branche kaum jemand kennt, der jedoch regelmäßig durch seine Darbietungen erfreut: weil er bloß gucken muss, um Wirkung zu erzeugen. Die Männer, die er verkörpert, sind meist bodenständig und haben wie der Trucker Ibo ihr Herz auf dem rechten Fleck. Die Szenen mit Eryilmaz und Anja Kling gehören zu den schönsten des Films. Mindestens ebenso sehenswert sind allerdings die Auftritte von Franziska Wulf, weil sich Liers auch für Schauspielerin Ani, die eigentlich Annegret heißt, eine eigene Geschichte ausgedacht hat.
In einem Gespräch voller vergifteter Komplimente teilt ihr der Serienproduzent mit, dass sie frei für neue Aufgaben sei. Natürlich ist sie am Boden zerstört; und dann wird sie auch noch von diesem Mädchen bis in die eigenen vier Wände verfolgt. Clever sorgt das Drehbuch dafür, dass sich die beiden trotzdem gut verstehen. Eine vergleichsweise kleine, aber wichtige Rolle spielt Bernhard Conrad als Polizist, der als Berater an der Serie mitwirkt und sich für die drei weiblichen Hauptfiguren schließlich als wahrer Freund und Helfer erweist.
Die beiläufig einstreuten Humoresken von Wulf und Conrad sind ohnehin eine wahre Freude. Großen Anteil an der heiteren Stimmung, die der Film verbreitet, hat nicht zuletzt die Musik. Ali N. Askins Komposition begleitet die Einführung von Großmutter und Enkelin mit sanften Klavierklängen, bedient sich munterer Jazz-Elemente, als Nele sich auf den Weg macht, und wird schließlich fast rockig.