Eine musikalische Klage gab es auch schon über die Klimaerwärmung und den Fluglärm: Es gibt viele Themen, die es das Repertoire des Frankfurter Beschwerdechors geschafft haben. Rund 80 Lieder hätten sie parat, sagt der Musikalische Leiter Phillip Höhler. Kern des Inhalts ist immer ein Ärgernis, zu dem der Chor öffentlich etwas sagen beziehungsweise singen will. "Es ist ein Ventil", sagt Höhler, "ein Ansingen gegen die eigene Ohnmacht", über das die Sängerinnen und Sänger ausdrückten, was sie denken.
Die Texte schreiben die rund 25 aktiven Chormitglieder selbst. Beate Zeidler ist eine der Texterinnen. Sie wählt meist aktuelle Themen, von denen sie denkt, dass sie dazu auch etwas zu sagen hat.
Kürzlich hat sie - selbst Teil der Boomer-Generation, die sich langsam in den Ruhestand verabschiedet - ein Lied über die Boomer und den leer gefegten Arbeitsmarkt geschrieben. Die Arbeitskraft dieser Generation sei zwar weiterhin begehrt, dennoch fehlten bislang attraktive Entlohnungsmodelle. "Das gefällt mir nicht", sagt sie und hat daraus im Lied die Strophe gemacht: "Unser Leben lang war'n wir zu viele, Füreinander war'n wir Konkurrenz. Doch jetzt ha'm wir identische Ziele. Jetzt ist Schluss mit der Lohnabstinenz."
Aus "Love is in the air" wird "Boomer überall"
Das Lied "Boomer überall" singen die Chormitglieder zur Melodie des Songs von John Paul Young "Love is in the air", der 1978 ein internationaler Hit war. Roswitha Schmidt hat auf die Musik des Songs "If I Could Turn Back Time" der US-amerikanischen Sängerin Cher das Lied über die AfD "Sie dreh'n die Zeit zurück" geschrieben. "Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass wieder nur Sündenböcke für alle Probleme gesucht werden", empört sie sich und erzählt, dass der Chor auch auf Demonstrationen singt. Sie habe dann "das gute Gefühl, wenigstens ein bisschen was getan" zu haben.
Wer ein Lied schreibt, stellt es im Chor zur Diskussion. Es sei nicht immer ganz einfach, Themen und Inhalte zu finden, bei denen alle einer Meinung sind, sagt Phillip Höhler. Dennoch gelinge es: "Über Humor kommen wir immer zu einer Lösung", erklärt er. Mit Spott und Verzerrung könne man Schärfe aus Texten nehmen oder auch hineingeben und schlimmstenfalls ein Pro und Contra aus einem Text machen, fügt er lachend hinzu. Am wichtigsten sei die gemeinsame Entscheidungsfindung.
Diskutieren und dann einfach singen
Die Einigung auf ein neues Lied funktioniere allerdings nur, wenn alle sich wohlfühlten und in der Lage seien, nach einer engagierten Diskussion wieder gemeinsam zu singen. Mit Wutbürgertum habe der Chor nichts zu tun. "Hier ist niemand ständig wütend", betont er. Und nur selten falle ein Text mal völlig durch.
Der Chor wurde 2009 nach einem Aufruf des Kunstvereins Frankfurt gegründet, erzählt Elisabeth Uloth, die von Anfang an dabei war. Es ging um einen Projektchor zur damaligen Bundestagswahl. Rund 30 Leute kamen zusammen und schafften es, einen Monat später bei der Wahlparty des Kunstvereins zu singen. Die Leute blieben zusammen, der Beschwerdechor war gegründet.
Die Idee zu einem "Complaints-Choir" kam aus Finnland. Damit hatte das Künstlerehepaar Tellervo Kalleinen und Oliver Kochta-Kalleinen einen Weg gefunden, um aus der negativen Energie des Beschwerens, die es in jedem Land der Welt gibt, eine positive zu machen. Der erste "Complaints-Choir" gründete sich 2005 als Pilotprojekt in Birmingham und wurde schnell zu einem Selbstläufer. In Köln etwa gab es eine sehr große Gruppierung mit mehr als 100 Mitgliedern, aktuell wisse er von einem Chor in Wien, erzählt Musikwissenschaftler Höhler. Vernetzt seien die Chöre untereinander nicht.
Elisabeth Uloth bestätigt die beim Singen entstehende positive Energie: "Ich habe immer gute Laune, wenn ich hier rausgehe", sagt sie und verweist auf das Motto des Chors: "Mit Lust den Frust verwursten."