Tieftauchgang in die Orthodoxie

Foto einer Innenasicht der rumänisch-orthodoxe Kapelle mit Stühlen und Gemälden.
Jérémy Toma/cc/Wikimedia Commons
Ansicht der rumänisch-orthodoxen Kapelle in Pregny-Chambésy bei Genf.
mission.de
Tieftauchgang in die Orthodoxie
Schöne goldene Welt? Während eines Auslandsstudiums entdeckt Mareike Meyer die Orthodoxie. Mit viel ökumenischer Offenheit taucht sie tief ein in diese für sie neue Welt. Doch nicht immer wird diese Offenheit erwidert. Ihre Erlebnisse und was sie daraus für sich ableitet, berichtet sie in ihrem Blog-Artikel.

Freundliche Gesichter, eine Menge Kinder, einladende Sitzgelegenheiten und an der Wand wunderschöne im gedämpften Licht farbenreich strahlende Bilder voller Geschichten. Als ich das erste Mal in meinem Leben eine orthodoxe Kapelle betrete, tauche ich in ein wohlig warmes Gefühl des Ankommens. Ich bin in Chambésy bei Genf, wo sich ein kleines orthodoxes Zentrum befindet, das mehrere Diasporagemeinden der orthodoxen Kirchen beherbergt.

Die rumänisch-orthodoxe Kapelle und das griechisch-orthodoxe Kirchengebäude direkt nebenan soll ich erst Wochen später kennenlernen. Für den Moment meiner ersten orthodoxen Begegnung ist der kleine bescheidene Raum des ökumenischen Patriarchats perfekt. Hier wird die Liturgie (der Gottesdienst) auf der Landessprache Französisch gehalten (keineswegs selbstverständlich), ich kann der Predigt folgen und bin von der sanften und spirituellen Ausstrahlung des Priesters begeistert. Die weißen Gewänder, die Farbenpracht, das goldene, majestätische Glitzern der Umhänge – alles scheint mir den Himmel näherzubringen und mich in das mystische Geschehen im Thronsaal Gottes hineinzunehmen.

An diesem ökumenischen Ort in der Schweiz war ich durch mein Theologiestudium gelandet. Ich hatte mich für ein Auslandssemester an der Uni Genf im Rahmen des Studienjahres des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) entschieden und verbrachte somit ein Semester mit Studierenden aller Welt und aller Konfessionen auf einem kleinen Campus am Genfer See.

Mein Interesse für Ökumene hatte schon Jahre zuvor in der Auseinandersetzung mit verschiedenen protestantischen Kirchen seinen Anfang genommen und die Zuneigung zu hochkirchlichen Formen von Liturgie hatte mich bereits in diversen katholischen Begegnungen gepackt. Meine Freude galt dem Kennenlernen fremder Frömmigkeit und der Begegnung mit dem Unbekannten.

Ich wollte nicht "nur" oberflächlich berührt sein, sondern ganz und gar eintauchen. Ich wollte Gott in dem ganz Anderen sehen und dieses Andere lieben lernen. Ein gutes Stück (jugendlicher?) Eifer und eine Menge Unvoreingenommenheit machten mir dies leicht und so baute ich hier in Genf eine Freundschaft mit meiner orthodoxen Kommilitonin aus Rumänien auf, die mich schließlich in die französische Liturgie der wohligen kleinen Kapelle in Chambésy mitnahm.

Dabei ist zu erwähnen, dass ich durch meine Eltern eigentlich gegenteilig geprägt war. Liturgie und feste Formen gottesdienstlichen Lebens waren ihnen zufolge eher überholt und sprachen sie nicht so sehr an. Vielmehr müsse man moderne und flexible Gottesdienste anbieten. Ein Anliegen, das auch ich grundsätzlich teile.

Das Andere lieben lernen

In den folgenden Wochen nahm meine orthodoxe Freundin mich nicht nur jeden Sonntag in die kleine Kapelle mit, sondern wir reisten auch nach Lissabon, um dort ihren geistlichen Vater und Bischof kennenzulernen. Die orthodoxe Welt wurde mir vertrauter und Vieles bestätigte meine anfängliche Begeisterung. Die Freundschaft und die vielen Besuche in der familiären Kirchengemeinde in Chambésy prägten mich so nachhaltig, dass ich nach dem Semester ein paar Tage in einem orthodoxen Kloster einkehrte und mich dafür entschied, in München am orthodoxen theologischen Institut ein paar Seminare zu belegen.

Ich unternahm eine Reise nach Cluj, um dort neben dem Wiedersehen meiner rumänischen Freundin auch diverse orthodoxe Klöster und Kirchen zu besuchen sowie inspirierende orthodoxe Persönlichkeiten kennenzulernen. Zudem nahm ich an den Treffen des Jungen Forums Orthodoxie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) teil und engagierte mich dort.

Eine besondere Begegnung war das theologische Gespräch mit einem orthodoxen Dozenten der theologischen Fakultät Cluj. Er berichtete mir davon, dass er die Liturgie bald für internationale Außenstehende auf Englisch feiern wolle und vertrat insgesamt ein sehr persönliches und nahbares Gottesbild. Verbunden mit seinem Humor und seiner menschenzugewandten, lebensnahen Art war er eine der spannendsten Figuren, die mir in der Orthodoxie begegneten. Gleiches gilt für den Professor Stefanos Athanasiou an der Uni München, der mich durch seine diplomatische Art, die anregenden Diskussionen seines Bioethikseminars sowie Offenheit im ökumenischen Dialog prägte.

Ein Prüfstein der Toleranz

All dies ereignete sich vor gut zwei Jahren und war vielleicht der Höhepunkt einer intensiven Kennenlernphase und der wertvollen Kontakte. Die Faszination für das Fremde hatte mich hierhergebracht, jedoch sollte eine derartige Anziehungskraft nicht von Dauer sein. Von Anfang an begegneten mir auch die Facetten der Orthodoxie, die eine Vielzahl von Fragen aufwarfen. Ich erinnere mich an den Moment, in dem mir klar wurde, dass es in der Orthodoxie keinerlei Heilsgewissheit/-zuversicht gibt (weit weniger noch als in der katholischen Kirche). Zwar regte sich innerer Widerspruch in mir, doch wollte ich ja die Begegnung. Ich wollte mich völlig darauf einlassen und ich wollte das ganz Andere wertschätzen.

Umso tiefer ich in die Begegnung mit der Orthodoxie tauchte, umso mehr traf ich auch auf Weltfremdheit, auf Ablehnung jeglicher moderner Ansätze oder Überzeugungen, auf harte Strenge, Leistungsdenken bezüglich der eigenen "Heiligkeit" und extremen Traditionalismus.

Als ich zum ersten Mal in München eine deutschsprachige Liturgie besuchte, kniete ich mich (wie ich es stets tat) während der Liturgie nieder und wurde unmittelbar zurechtgewiesen, dass dies in der sonntäglichen Liturgie keinen Platz habe. Der Gedanke dahinter ist, dass die Liturgie am Sonntag das Gotteslob und die Höhe Gottes ausdrücke. Dies wird durch fortwährendes Stehen in der Liturgie ausgedrückt. Deshalb gibt es normalerweise keine Stühle oder Bänke in orthodoxen Kirchen. Verwiesen wird stets auf die Kirchenväterüberlieferung, die teilweise wie verbalinspirierte Lehrsätze verstanden werden und eine große Rolle für die Volksfrömmigkeit spielen.

Nicht zuletzt die Begegnung mit der Russischen Orthodoxen Kirche wurde immer wieder zum Prüfstein meiner Toleranz und stellte mich vor die Frage, wie tief ich in diese fremde Welt eintauchen wollte. Konnte ich wirklich das ganz Andere lieben lernen? An was für einen Gott glauben die Orthodoxen eigentlich? Ist das auch mein Gott?

Es mag für Andere selbstverständlich sein, bei einem Tieftauchgang in eine völlig fremde Welt vorsichtig zu sein. Ich aber hatte bisher wenige Grenzen in meinen ökumenischen Begegnungen gesetzt. Offenheit macht schließlich offene Gegenreaktionen möglich. Interesse provoziert Gegeninteresse, oder?

Einseitige Begegnungen sind nicht von Dauer

Als ich mit dem reichen Schatz an orthodoxen Begegnungen und orthodoxer Theologie nach Hamburg zurückkehrte, um mein Examen abzuschließen, begann für mich eine schwere Lebensphase mit vielen gesundheitlichen, familiären und diversen anderen Herausforderungen. Nach einer Weile merkte ich in dieser Krise, dass sich mein Gottesbild verändert hatte.

Gott schien entfernter, weniger zugewandt und strenger geworden zu sein. Hatte die Heiligkeit Gottes, die in der orthodoxen Kirche so betont wird und mich so inspiriert hatte, auch eine Kehrseite? Oder waren es eher die strengen Traditionen und die Leistungen vor Gott, die ihre Spuren an mir hinterlassen hatten? War es die Transzendenz und Metaphysik, ja der völlig gefühllose Gott, der sich mit der Zeit in mein eigenes Gottesbild eingeschlichen hatte?

Als ich die Entscheidung traf, mein Glück in die Hand und in den Blick zu nehmen, musste manch eine herausfordernde Beziehung in die (russische) Orthodoxie in den Tiefen der für mich so neu gewesenen Welt zurückbleiben. Denn es war klar geworden, dass meine Offenheit und mein Interesse gewertschätzt, aber nicht gleichermaßen mit Offenheit und Interesse beantwortet worden waren. Eine Begegnung, die einseitig stattfindet, kann aber nie von Dauer sein. Das habe ich für meine zukünftigen ökumenischen Begegnungen gelernt.

So hieß ich wieder den nahen Gott in meinem Leben willkommen. Den Gott des Mitgefühls und des Trostes. Der Gott, dessen Ja zu mir vor aller Zeit feststand und der mich unabhängig von meinen Leistungen ansieht. Natürlich gibt es dieses Gottesbild auch in der Orthodoxie. Denn letztlich gibt es nicht die eine orthodoxe Kirche, Lehre oder Überzeugung. Vielleicht ist die Orthodoxie vielmehr eine Heterodoxie voller Unterschiede. Nicht zuletzt das habe ich an ihr schätzen gelernt.

Wertschätzen, ohne eigene Grenzen zu missachten

Ich erinnere mich gern zurück an den Anfang in der kleinen orthodoxen Kapelle in Chambésy. Ein wohlig warmer Raum voll freundlicher und offener Gesichter. An der Wand dort ist eine Ikone des letzten Abendmahls, die den Lieblingsjünger an Jesu Schulter zeigt. Die Nähe zu Jesus war mir durch diese Ikone sehr plastisch geworden und hatte mich so berührt, dass ich sie nie vergessen habe. Doch habe ich solche Ikonen in meinem ganzen Tieftauchgang durch die Orthodoxie in verschiedensten orthodoxen Ländern und unzähligen Läden gesucht und nirgendwo wieder finden können.

Diese Art, Ikonen zu malen, ist nämlich innerhalb der Orthodoxie höchst umstritten. Sie werden teilweise nicht als "orthodox" angesehen und sind deshalb selten und meist eher in der Diaspora zu finden. So ist diese Ikone nicht nur zu dem Ort geworden, an dem mich das Interesse für die Orthodoxie packte, sondern versinnbildlicht auch den Grund dafür, warum ich in den Tiefen dieser Kirche nicht allzu lang verweilen wollte und konnte.

Manch eine Person mag mich am Anfang meines Weges in die Orthodoxie belächelt haben. Die alteingesessenen Ökumeniker:innen wissen um die Ambivalenz der Begegnung mit dem Anderen, sie sind meist erfahren darin, das Neue wertzuschätzen, ohne die eigenen Grenzen zu missachten. Trotzdem schau ich mit Dankbarkeit auf meinen Mut und Übermut, das Fremde so tief an mich herangelassen zu haben.

In einer Weltgesellschaft, in der Entfremdung und Polarisierung zunehmen, habe ich versucht, – dem Zeitgeist zum Trotz – Offenheit zu leben. Vielleicht wurde mir deshalb viel Vertrauen von meinen orthodoxen Geschwistern entgegengebracht. Definitiv ermöglichte es mir, viele besondere Menschen kennenzulernen. Dabei habe ich Themen diskutiert, die viele für indiskutabel halten und habe mich in Weltanschauungen hineingedacht, die wie glühende Kohlen in meinem Magen lagen.

Ich habe Freundschaften geknüpft, die ich wieder aufgeben musste und Freundschaften geknüpft, die hoffentlich für immer bleiben. Gott ist mir begegnet, in der Liturgie, in den Menschen, in den Traditionen. Die Orthodoxie ist wie jede Konfession ein riesiger Kosmos, in dem es so viel zu entdecken gibt. Wo schließlich die Grenzen des Entdeckens anderer Welten auszutarieren sind, ist eine Reise, auf der sich jeder Mensch befindet. Ich wünsche mir, dass Menschen mutig und offen sind und das Unbekannte an sich heranlassen, bevor sie allzu schnell die Türen schließen.

evangelisch.de dankt der Evangelischen Mission Weltweit und mission.de für die inhaltliche Kooperation.