Abromeit: EKD schweigt zu Israels Verstößen

Hans-Jürgen Abromeit auf einer Kirchenbank sitzend
Privat
Der frühere Bischof Hans-Jürgen Abromeit spricht im Interview über Schuld, Versöhnung, politische Realität und warum christliche Nächstenliebe auch heißt, Unrecht klar zu benennen.
Alt-Bischof erneuert scharfe Kritik
Abromeit: EKD schweigt zu Israels Verstößen
2019 löste Alt-Bischof Hans-Jürgen Abromeit mit seiner Warnung vor einer deutschen "Überidentifikation mit Israel" einen EKD-weiten Eklat aus. Jetzt legt er nach: Er wirft der EKD vor, Israels Menschenrechtsverletzungen zu verschweigen, sich an realitätsferner Zwei-Staaten-Rhetorik festzuklammern und die christlichen Palästinenser im Stich zu lassen. Was er stattdessen fordert: klare Worte, historische Verantwortung – und den Mut zur unbequemen Wahrheit.

evangelisch.de: Ihre Aussage zur "Überidentifikation Deutschlands mit dem Staat Israel" sorgte im August 2019 für kontroverse Reaktionen. Wie hat sich Ihre Haltung seitdem entwickelt?

Hans-Jürgen Abromeit: Bei der Verwendung des Begriffs "Überidentifikation" ging es mir darum, dass wir als Deutsche zweifellos gegenüber dem jüdischen Volk durch den Holocaust große Schuld auf uns geladen haben. Diese Schuld ist so unermesslich und bei allen aufrichtigen Deutschen ist das Schamgefühl so stark, dass die Gefahr besteht, in der Beurteilung des heutigen Verhaltens der damaligen Opfer nicht so genau hinzuschauen.

Niemand wird aber im Ernst bestreiten, dass ein Volk, dem vor 80 und 90 Jahren großes Unrecht angetan worden ist, in einer anderen Konstellation heute selbst Unrecht tun kann. Teile des jüdischen Volkes, sowohl einzelne jüdische Menschen und Gruppen als auch Organe des Staates Israel verletzen gegenwärtig systematisch Menschenrechte und Völkerrecht, ja verstoßen auch gegen ausdrückliche Gebote der Thora und der Propheten. Den Palästinensern, egal ob beteiligt am Terror gegen Israel oder nicht, egal ob Muslime oder Christen, wird die Lebensgrundlage entzogen. Große Teile der deutschen Gesellschaft, die deutsche Politik und auch viele Christen und die evangelischen Kirchen sind aber bereit, dieses Unrecht zu übersehen. 

In Ihrer Amtszeit als Bischof der Nordkirche und später als EKD Beauftragter für deutsch polnische Beziehungen haben Sie immer wieder Brücken zwischen Ländern gebaut. Ist es denn möglich, diese hier gesammelten Erfahrungen auf den Nahost Konflikt zu übertragen?

Abromeit: Im Sinne christlicher Ethik soll das Verhältnis der Völker von Versöhnung und Frieden geprägt sein. Ich habe gelernt, dass eine genaue Kenntnis der Geschichte, nicht nur aus der eigenen Perspektive, sondern auch aus der Perspektive meines Gegenübers, die Grundlage für Versöhnung und Frieden bilden. Da gibt es im Verhältnis zu Polen und zu Israel Vergleichbares. Beide Völker haben durch das nationalsozialistische Deutschland unendlich viel Gewalt bis hin zur Vernichtung erfahren. Nur wenn wir Deutschen bereit sind, diese Schuld einzugestehen, zu benennen und um Vergebung bitten, können Versöhnung und Frieden wachsen. In der Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme für die Folgen der deutschen Geschichte gibt es keine Verjährung. Gleichzeitig darf ich die Beziehung der Völker oder auch zu Staaten nicht naiv auf eine Eins-zu-eins-Beziehung reduzieren. Die Beziehung zu Polen ist nur im Kontext Europas, besonders Osteuropas zu verstehen. Die Beziehung zum Staat Israel ist im Zusammenhang des jüdischen Lebens unter uns und zu den Millionen Juden zu sehen, die nicht in Israel leben wollen. Und sie ist zu sehen im Kontext des Nahen Ostens, besonders im Verhältnis zum palästinensischen Volk. Da gibt es manches Übertragbares. Und doch ist die konkrete Geschichte immer wieder anders. 

Sie sind viele Jahre Vorsitzender des Jerusalemsvereins gewesen und haben sich auch für christlich jüdischen Dialog und den Schutz heiliger Stätten engagiert. Wie nah kommen Sie in dieser Funktion an den Konflikt? 

Abromeit: Für meinen persönlichen Weg war zunächst mein Vikariat entscheidend, das ich 1980/81 in Jerusalem an der Erlöserkirche absolviert habe. Dadurch ergaben sich Beziehungen zu jüdischen Israelis und besonders Freundschaften zu palästinensischen Christen. Seit 45 Jahren verfolge ich nun das israelisch-palästinensische Verhältnis, den Wandel der Politik und die Eskalation des Kampfes um einen palästinensischen Staat. Das ist furchtbar traurig. Ich habe in den vielen Jahren beobachtet, wie Schüler der von uns, dem Jerusalemsverein, unterstützten Schulen erschossen wurden, wie Begegnungen zwischen Israelis und Palästinensern verboten wurden, wie Land zum Wohnen und für die Landwirtschaft ihren rechtmäßigen palästinensischen Eigentümern weggenommen wurde und wie viele, viele Christen ausgewandert sind, weil sie das Leben in Israel/Palästina nicht mehr ausgehalten haben. Und noch vieles mehr. Am meisten wundert – und freut – mich, dass aber viele Palästinenser die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben im Land noch nicht aufgegeben haben. 

"Die jetzige Regierung besteht zu einem wichtigen Teil aus Siedlern"

Sie sehen viele Brennpunkte um das Handeln des Staates Israel. Welche Brennpunkte meinen Sie?

Abromeit: Natürlich ist da zunächst Gaza. Brennpunkt Nummer eins. Ich war am 7. Oktober 2023 in Tel Aviv und habe den Schock erlebt, den der Überfall der Hamas, die Morde an Unbeteiligten und die Geiselnahmen verständlicherweise ausgelöst haben. Jeder hat damals verstanden, dass Israel sich verteidigen musste. Aber schon wenige Tage später – ich war im Negev, in der Nähe von Israels größtem Militärflughafen – nahm ich wahr, wie Israel Tag und Nacht den Gazastreifen bombardierte. Als die ersten Zahlen über palästinensische Opfer bekannt wurden, besonders über den großen Anteil an Frauen und Kindern, bekam ich Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Reaktion Israels. Dann hielt Netanjahu am 28. Oktober 2023 seine Rede, in der er eine lange Tradition der Rechten und Faschisten in Israel aufnahm, nach der die Palästinenser das heutige Amalek seien. Amalek ist nach 5. Mose 25, 17-19 und 1. Samuel 15 der Erzfeind Israels und muss ausgelöscht werden. Seitdem verfolgt Israel eine Politik der Vernichtung der Palästinenser oder zumindest des Transfers aus dem Gazastreifen. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl an Belegen dafür. 

Brennpunkt Nummer zwei ist die Westbank. Hier nimmt Israel ebenfalls täglich Palästinensern Land ab, erschwert ihr alltägliches Leben und drangsaliert sie so lange, bis möglichst viele das Land verlassen. Die jetzige Regierung besteht zu einem wichtigen Teil aus Siedlern. Man lässt diesen für neue Siedlungen freie Hand. Erst am Samstag (12. Juli) wurden zwei Palästinenser von Siedlern getötet. Die Armee schreitet nicht ein.

Brennpunkt Nummer drei ist der Libanon, Nummer vier Syrien und Nummer fünf der Iran. Gegen alle diese Länder hat Israel in den letzten Wochen und Monaten Krieg geführt oder Bombardierungen vorgenommen. Mit Ägypten und Jordanien gibt es zwar offiziell Friedensverträge, aber trotzdem ist das Verhältnis schlecht. Das ist nicht allein Israels Schuld, aber Israel hat durch sein alleiniges Vertrauen auf seine militärische Stärke und seine rücksichtslose Kriegsführung maßgeblich dazu beigetragen. Ohne Freunde in der Nachbarschaft kann aber kein Land auf Dauer bestehen. Ich mache mir große Sorgen, wie lange Israel diese Politik "Dominanz durch militärische Stärke" wird durchhalten können. Schon heute ist deutlich, wenn die USA sich eines Tages zurückziehen würden, wären die Tage Israels gezählt. Israel schadet auf lange Sicht nicht nur seinen Nachbarn, sondern auch sich selbst.

"Am skurrilsten ist die gebetsmühlenartige Wiederholung, dass die EKD und die Landeskirchen eine Zwei-Staaten-Lösung, einen Palästinenserstaat neben dem Staat Israel, als Lösung des Nahostkonfliktes ansehen"

Sie sprechen davon, dass die Rolle der Kirchen im Nahost Konflikt Sie sehr besorgt. Wo sehen Sie die größten Defizite in der kirchlichen Debatte – und welche Schritte müssten Ihrer Meinung nach dringend unternommen werden?

Abromeit: Die Kirchen in Deutschland - und fast nur in Deutschland – tun so, als ob sie die Entwicklungen im Israel unter Netanjahu nicht wahrgenommen hätten. Am skurrilsten ist die gebetsmühlenartige Wiederholung, dass die EKD und die Landeskirchen – wie die deutsche Politik - eine Zwei-Staaten-Lösung, einen Palästinenserstaat neben dem Staat Israel, als Lösung des Nahostkonfliktes ansehen. Dabei hat der Likud das noch nie gewollt, Netanjahu hat die Zwei-Staaten-Lösung ausgeschlossen und die Knesset mehrfach beschlossen, dass es keinen Palästinenserstaat geben darf.

Die deutschen Kirchen verschließen die Augen vor der Realität. Das heutige Israel tritt – entgegen seiner Unabhängigkeitserklärung von 1948 – nicht mehr ein für "Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels" für alle Bewohner des Landes. Man kann gegenwärtig im Livestream verfolgen, wie in Gaza jeden Tag eine Schulklasse palästinensischer Kinder durch Verhungern oder Erschießen getötet wird. Und es kaum ein Wort der EKD oder einer evangelischen Kirchenleitung, die das beklagt, beide Verursacher dieser Not, die Hamas wie den Staat Israel, beim Namen nennt und Konsequenzen zumindest von unserer Regierung und der EU fordert.

Unsere christlichen palästinensischen Geschwister, das konnte ich bei zwei Besuchen im Land seit Beginn des Gazakrieges feststellen, fühlen sich von den deutschen evangelischen Kirchen im Stich gelassen. Selbst in Gebeten bleibt man in Deutschland schwammig, aus Angst vielleicht etwas Falsches zu sagen.

Es ist gut und wichtig, ja auch zunehmend notwendig, dass die Kirche in Deutschland gegen Antisemitismus vorgeht. Bei meinen Bekannten in Berlin erlebe ich mit, wie sich eine Feindschaft gegen Menschen richtet, nur weil sie jüdisch sind oder auch nur für jüdisch gehalten werden. Aber genauso notwendig wäre der Mut, Landraub durch jüdische Siedler, willkürliche Tötungen durch die israelische Armee und die tägliche Schikane der Palästinenser durch den Staat Israel und seine Organe beim Namen zu nennen.

Zigfach wurde mir gesagt: "Das ist alles ganz furchtbar, aber das dürfen wir als Deutsche nicht sagen." Aber wenn wir die Wahrheit verschweigen, machen wir uns schuldig. Übrigens leiden darunter nicht nur die Palästinenser im Allgemeinen, sondern natürlich auch die christlichen Palästinenser im Besonderen. Ich habe eine Reihe von Rechtsbeugungen vor Augen, die auch unsere evangelischen Mitchristen in Jerusalem und der Westbank erleiden mussten. Früher gab es das schon mal, dass evangelische Kirchenleitungen in Deutschland für ihre Glaubensgeschwister in Palästina offiziell eingetreten sind. Heute ist mir ein solches Eintreten für die in Israel und Palästina, die keine Stimme haben, nicht bekannt.

"Ich frage nun: Wo ist im ganzen Konflikt um Israel Versöhnung überhaupt nur ein Thema? Mit keinem seiner Nachbarn strebt Israel Versöhnung an"

In einer Welt mit vielen Konflikten: welche Kernprinzipien – Versöhnung, Gerechtigkeit, Nächstenliebe oder Bewahrung der Schöpfung – sollten Ihrer Meinung nach ganz konkret das kirchliche Engagement im Nahost-Konflikt leiten? Welche unverrückbaren theologischen Leitplanken leiten Sie selbst?

Abromeit: Jesus hat die Nächstenliebe, die ja auch im Judentum ein wichtiger Wert ist, als umfassende Grundlage menschlichen Handelns angesehen. Gleichfalls hat er sie entgrenzt. In Liebe sollen wir allen Menschen begegnen, sogar unseren Feinden. Manche halten eine solche Einstellung für naiv. Ich halte sie – zum Beispiel mit Carl Friedrich von Weizsäcker – für klug. Wenn in einem Konflikt nicht am Ende eine Lösung erreicht wird, mit der beide Konfliktparteien leben können, ist der Konflikt nicht gelöst. Feindesliebe bedeutet, zu versuchen, das Problem auch mit den Augen meines Feindes zu sehen. Zu einem Konflikt gehören immer mindestens zwei. Ziel muss sein, wenn irgend möglich, am Ende die beiden zu versöhnen. Man kann das ganze Werk Jesu als Ermöglichung von Versöhnung verstehen. Paulus zumindest hat Jesus so verstanden. 

Ich frage nun: Wo ist im ganzen Konflikt um Israel Versöhnung überhaupt nur ein Thema? Mit keinem seiner Nachbarn strebt Israel Versöhnung an. Aber so wenig es in Europa nach Jahrhunderten der Kriege Frieden gegeben hätte, ohne deutsch-französische Aussöhnung oder ohne deutsch-polnische Versöhnungsarbeit, so wenig wird es in Nahost Frieden geben, wenn es nicht irgendwann auch eine israelisch-palästinensische Aussöhnung gibt, die auch einen Frieden mit den Nachbarn einschließt. Friede muss immer auf Gerechtigkeit basieren. Auch wenn dabei sicher viele Kompromisse zu machen sind, wird Gerechtigkeit nur zu erreichen sein, wenn die Palästinenser den Israelis und die Israelis den Palästinensern im Lande eine Zukunft einräumen. Wenn mein einziges Ziel darin besteht, meinen Gegner nur weg haben zu wollen, wird weder Gerechtigkeit noch Versöhnung und dann eben auch kein Friede einziehen. Das Ziel muss sein, dass alle Menschen im Land, egal welcher Nationalität oder welcher Religion sie angehören, gleiche Rechte haben. Davon sind wir weit entfernt.

Wenn Sie auf Ihre langjährige Kirchen  und Versöhnungsarbeit zurückblicken, welche Lehre aus Ihrer Laufbahn würden Sie heute jungen Theologen und Gemeindeleitungen mitgeben, die sich für den Frieden im Nahen Osten einsetzen wollen?

Abromeit: In Jerusalem liegt der Zeitkern der christlichen Wahrheit. In Bethlehem haben die Engel in der Weihnachtsgeschichte vom "Frieden auf Erden" gesungen. Wir können nicht die Geschichten der Bibel lesen und dann so tun, als ginge es uns nichts an, wie es den Menschen heute dort geht. So kann es uns nicht egal sein, wenn die Menschen dort Unrecht erleiden, sterben und verzweifeln. Egal ob die Leidenden Juden, Muslime oder Christen, Israelis oder Palästinenser sind, Gott will das Leid keines seiner Geschöpfe. Allen religiösen Aufforderungen zu Krieg und Vernichtung des Gegners haben wir zu widersprechen. Wir sollten das Geschehen im Land der Bibel mit Empathie für die Leidenden verfolgen. Dazu gehört, genau hinzuschauen, die Geschichte des Konfliktes zu verstehen suchen und alle die, die ohne Gewalt den Weg der Gerechtigkeit gehen wollen, zu unterstützen.

Jungen Theologen empfehle ich, die durchaus vorhandenen Einrichtungen, Vereine und Bewegungen auf der jüdischen und auf der palästinensischen Seite zu unterstützen, die Frieden und Versöhnung zwischen Israel und Palästina wollen. Als ich nach meinem Vikariat in Jerusalem nach Deutschland zurück gekehrt bin, habe ich mir gesagt: "Du hast viel zu tun, aber bei einer Einrichtung kannst du mitmachen." Ich bin damals in den Jerusalemsverein eingetreten, weil hier christliche Gemeinden und Schulen unterstützt werden, die durchweg eine gewaltlose Konflktlösung anstreben.