evangelisch.de: Wie erleben Sie die aktuelle Sicherheitslage in Israel nach den Angriffen aus dem Iran – was spüren Sie konkret in Jerusalem?
Joachim Lenz: Wir dachten, es könne nicht mehr schlimmer kommen - aber es kam schlimmer. Menschen in meiner Gemeinde sind müde. Nach anderthalb Kriegsjahren seit dem Terror am 7. Oktober hatten wir gedacht, dass die Gewalt irgendwann weniger wird. Nun gehen wir nachts in die Schutzräume, wenn iranische Raketen fliegen; die Bundesregierung organisiert Evakuierungsflüge für Bundesbürger über Jordanien. Jerusalem selbst wird nicht angegriffen, in Tel Aviv oder Haifa sieht das ganz anders aus, natürlich auch in Teheran.
Wie wirkt sich die angespannte politische Situation auf das Leben der christlichen Gemeinden in Israel und Palästina aus?
Lenz: Seitdem die Bomber und Raketen fliegen, herrscht Ausnahmezustand: Schulen und Geschäfte sind geschlossen, auch Gemeindeveranstaltungen sind untersagt. Das betrifft auch Gottesdienste, egal ob jüdisch, muslimisch oder christlich. Unsere kleine Gemeinde kommt also per Zoom zusammen, am Samstagabend, wenn auch sonst seit dem 7. Oktober in einem Friedensgebet der Freundeskreis der Gemeinde zusammenkommt. Das ist gut, auch wenn uns das gemeinsame trotzig-fröhliche Singen und Beten am Sonntag in der Erlöserkirche noch stärker half.
Welche Rolle spielen Ihre Gemeinde und die evangelische Kirche im Heiligen Land in diesem Konflikt?
Lenz: Wir halten die Hoffnung auf den Friedefürsten Jesus hoch, auch wenn das vielen bei uns oft schwerfällt. Mit den evangelischen Christenmenschen arabischer, englischer, dänischer u.a. Sprache halten wir fest, dass wir im Heiligen Land am Ende Frieden und Gerechtigkeit brauchen, nicht immer noch mehr Gewalt. Hoffnungssturheit nennt man das manchmal.
Wie kann Kirche in einer solchen Eskalationsspirale ein Zeichen des Friedens setzen – auch gegenüber Jüd:innen und Muslim:innen vor Ort?
Lenz: Wir sind als Christenleute und als Deutsche in einer doppelten Minderheitenposition und maßen uns nicht an, Wegweiser zu sein. Wir unterstützen aber die Menschen guten Willens, wie wir sie bei den Rabbis for Human Rights, beim Parents‘ Circle Families Forum und anderswo finden. Es gibt immer sie hier immer noch, die Friedensstifterinnen und Friedensstifter aus den unterschiedlichen Religionen und Kulturen! Wenn wir denen zeigen können, dass sie nicht allein sind und dass sie aus unserer tiefen Überzeugung richtig liegen, hilft das hoffentlich.
Sie sind nicht nur Pfarrer der Gemeinde, sondern auch Repräsentant der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in einem interreligiösen und politisch sensiblen Umfeld. Wie gelingt es Ihnen, als "Vermittler in Jerusalem" – wie es schon bei Ihrer Einführung 2020 hieß – gleichermaßen Nähe zu Jüd:innen, Muslim:innen und Christ:innen zu halten?
Lenz: Es ist eine wunderbare Vorstellung, die Menschen verschiedenen Glaubens an einen Tisch zu kriegen. Das ist hier derzeit fast unmöglich. Ich weiß von Konferenzen, die in den letzten Monaten im Ausland und dort heimlich abgehalten wurden, damit Israelis und Palästinenser überhaupt miteinander reden können. Sie würden bei ihren eigenen Leuten als Verräter gelten, wenn das bekannt würde. — Also versuchen wir, wenigstens im Kleinen die Türen offen zu halten. Zu Konzerten oder Stummfilmabenden kommen Menschen hebräischer und arabischer Sprache zusammen. Das ist nicht nichts! Ansonsten können wir nur schauen, dass wir bilaterale Verbindungen halten, die über Jahre gewachsen sind.
Was wünschen Sie sich aktuell von den Kirchen in Deutschland und Europa – in politischer wie in geistlicher Hinsicht?
Lenz: "Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit", lautet ein altes Sprichwort. Als Kirchen sollten wir vorsichtig beim Urteilen sein und den Partnerinnen und Partnern gut zuhören, die wir in Israel und bei den palästinensischen Kirchen haben. Leid und Aussichtslosigkeit sind auf beiden Seiten unfassbar tief, Israelis wie Palästinenser fühlen sich von der ganzen Welt verlassen — und auch das wird nicht besser, sondern immer schlimmer. Können wir als Kirchen dagegenhalten? Niemanden verloren zu geben, ist doch immer unser Auftrag. Wie das gehen kann? Wir müssen unsere Kontakte intensivieren und bei denen nachfragen, die unsere Solidarität brauchen. Der Propst von Jerusalem kann da nur vor Ort und im Kleinen raten.