epd: Der 14. Dalai Lama wird vor allem im Westen als spirituelles Vorbild, als Inbegriff der Weisheit verehrt. Welche Rolle hat er im Buddhismus?
Perry Schmidt-Leukel: Er ist nicht der "Papst des Buddhismus", was immer wieder kolportiert wird. Es gibt ja auch keinen Papst des Christentums, sondern einen Papst gibt es nur in der katholischen Kirche. Der Dalai Lama ist nicht das Oberhaupt des gesamten tibetischen Buddhismus.
Er hat eine besondere religiöse Würdestellung. Aber die ist mehr repräsentativer Natur. Er ist auch nicht das formale Oberhaupt des Gelugpa Ordens, dem er angehört. Aber mit dem Amt des Dalai Lamas waren oft Aufgaben der Staatsführung verbunden.
Was prägt sein bisheriges Lebenswerk?
Schmidt-Leukel: Vieles! Hervorheben möchte ich sein Engagement im interreligiösen Bereich. Er hat sich auf konkrete Fragestellungen innerhalb der Begegnung zwischen dem tibetischen Buddhismus und anderen Religionen eingelassen.
Welche Beispiele gibt es dafür?
Schmidt-Leukel: Er hat von sich aus den Dialog mit dem Judentum gesucht. Es gibt seit seinen ersten Initiativen in den 1990er Jahren einen kontinuierlichen buddhistisch-jüdischen Dialog. Vor allem in den USA gibt es einen hohen Prozentsatz sogenannter "JuBus", also jüdischstämmiger Menschen, die zum Buddhismus konvertiert sind, aber viel stärker noch Juden, die in ihrem jüdischen Glauben viele buddhistische Elemente übernommen haben.
Der Dalai Lama sagte, das Judentum hat es geschafft, seinen Glauben und seine Traditionen über 2.000 Jahre im Exil zu bewahren. Von ihnen können Tibeter lernen, ihre Traditionen im Exil zu bewahren. Das war seine Grundidee. Daraus haben sich dann sehr viel intensivere Beziehungen entwickelt.
Wie sieht es bei anderen Religionen aus?
Schmidt-Leukel: Der Dalai Lama hat sich angesichts der heftigen buddhistisch-islamischen Konflikte immer wieder schützend vor Muslime gestellt. Sowohl im Hinblick auf die Auseinandersetzungen in Sri Lanka als auch in Thailand und dann vor allem in Myanmar hat er immer wieder die Art der Umgangsweise einiger Theravada-Buddhisten gegenüber Muslimen kritisiert und sich dabei heftige Kritik dieser anderen Buddhisten zugezogen.
Er solle sich als tibetischer Buddhist da heraushalten, hieß es. In seinen Büchern schreibt er sehr wohlwollend über den Islam. Das hängt damit zusammen, dass es in Tibet, auch in Lhasa, eine loyale muslimische Gemeinde gegeben hat, denen viel Toleranz entgegengebracht wurde. Muslimische Tibeter sind mit dem Dalai Lama ins indische Exil gezogen.
Da gibt es eine alte Verbindung, obwohl traditionell das Verhältnis von Buddhismus und Islam extrem belastet ist. Was das Verhältnis von Hindus und Muslimen im heutigen Indien betrifft, hat er ebenfalls ausgleichende Positionen unterstützt. Keine einfache Aufgabe, da er ja in Indien quasi Asyl genießt.
Ist nicht auch das Verhältnis zwischen Buddhisten und Hindus von heftigsten Spannungen geprägt?
Schmidt-Leukel: Ja, der Buddhismus ist in Indien auch wegen dieser Spannungen untergegangen und bildet in Sri Lanka sozusagen den letzten Außenposten vor der Küste Indiens. Der dortige singhalesisch-tamilische Konflikt hat auch die religiöse Komponente, dass die Tamilen größtenteils Hindus und die Singhalesen Buddhisten sind. Aber auch hier hat der Dalai Lama versucht, soweit das möglich ist, auf Ausgleich hinzuwirken.
Wie sieht der Dalai Lama das Christentum?
Schmidt-Leukel: Was buddhistische Religionsführer betrifft, gehört er zu den wichtigsten Personen im christlich-buddhistischen Dialog. Es gibt natürlich intensive christlich-buddhistische Dialoge mit Japan. Aber unter den hohen buddhistischen Würdenträgern gibt es eigentlich kaum jemanden, der sich so stark und offen auf das Christentum eingelassen hat wie der Dalai Lama.
In den 1990er Jahren hatte er als Buddhist Texte des Evangeliums ausgelegt. Er hat intensiv den christlich-buddhistischen Dialog innerhalb der jeweiligen Mönchsgemeinschaften unterstützt, teilweise auch begleitet. Da spielt er schon eine ganz besondere Rolle.
Warum fördert der Dalai Lama auch den Dialog zwischen Religion und Wissenschaft?
Schmidt-Leukel: Er ist schon lange sehr interessiert an naturwissenschaftlichen Fragen. Er hat immer wieder seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass es eigentlich keinen Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion geben kann. Beides sind aus seiner Sicht Versuche, der letzten Wahrheit auf den Grund zu gehen. Das geht hinein bis in die Quantenphysik. Letztendlich steht dahinter das alte philosophische Problem des Verhältnisses von Geist und Materie. Auch der tibetische Buddhismus hat eine sehr reichhaltige philosophische Tradition, die genau um solche Fragen kreist.
Vereinfacht gesagt ist er der Überzeugung, dass besonders intensive Meditationserfahrungen einen Zugang zur Wirklichkeit aus der Subjektivität des Geistes heraus eröffnen. Seine Annahme ist, dass Geist und Materie viel stärker zusammengehören, als dualistische Ansätze annehmen. Das bedeutet, dass Materie keine "tote Materie" ist, wie es noch die Materialisten des 19. Jahrhunderts annahmen.
Als Grundgedanke des Dalai Lama gilt das Mitgefühl. Wie ist das zu verstehen?
Schmidt-Leukel: Das buddhistische "große Mitleid" oder "Mitgefühl" versteht er als einen selbstlosen, altruistischen Impuls. Er beruft sich oft auf eine buddhistische Schrift, in der es heißt: Alle unglücklichen Menschen sind unglücklich, weil sie nach dem eigenen Glück streben. Alle glücklichen Menschen streben dagegen nach dem Glück der anderen. Das hat für ihn universale Geltung. Das ist sein zentrales Kriterium, an dem er Religionen bemisst.
Und wie schätzt er die anderen Religionen dann ein?
Schmidt-Leukel: Er glaubt, dass alle großen Religionen ein solches Mitgefühl fördern, aber auch hindern können. In dieser Hinsicht betrachtet er die Religionen als mehr oder weniger gleichwertig. Aber vor allem in seinen früheren Aussagen hat er betont, dass Menschen spirituell verschieden sind und daher jeweils verschiedene Religionen benötigen. Das ist ein alter buddhistischer, eigentlich sogar vor-buddhistischer indischer Gedanke. Demnach befinden sich Menschen auf einer Art Hierarchie hinsichtlich ihres spirituellen Stadiums.
Also sind doch nicht alle Religionen gleichwertig?
Schmidt-Leukel: Im Grunde genommen geht der Dalai Lama wohl nach wie vor davon aus, dass auf der Ebene der religiösen Erkenntnis der Buddhismus - und dann natürlich seine eigene Variante des Buddhismus - alle anderen Religionen toppt. Er ist heute aber zurückhaltender darin, das so deutlich auszusprechen. Dass er Religionen vor allem nach ihrer Fähigkeit bewertet, eine Ethik des Mitgefühls zu fördern, darf nicht als säkularistisches Programm missverstanden werden. Wenn er von "säkularer Ethik" spricht, so meint er damit eine Ethik, in der religiöse und nicht-religiöse Menschen prinzipiell übereinstimmen können.