Touchscreens für Blinde "eine Katastrophe"

Mann mit Hilfsmitteln für Blinde und Sehbehinderte mit einer Armbinde, auf der das Blindenzeichen zu sehen ist.
Paul Zinken/dpa
Zum bundesweiten Sehbehindertentag fordern der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) und die Landesvereine mehr barrierefreie Bildschirme.
Negative Seite der Digitalisierung
Touchscreens für Blinde "eine Katastrophe"
Sie sind fast überall: Touchscreens sollen im Supermarkt, bei der Bahn oder in Arztpraxen den Alltag erleichtern. Doch für Tausende sehbehinderte Menschen sind sie eine unüberwindbare Hürde. Ein neues Gesetz soll helfen.

Ulrike Gerstein steht am Touchscreen, will bezahlen und tippt. Daneben. Nochmal. Wieder daneben. "Ich schaffe das einfach nicht", sagt die 80-Jährige, die mittlerweile fast blind ist. Touchscreens sind für sie "eine Katastrophe". Dabei sollen die Berührbildschirme in Supermärkten, Bussen oder Restaurants eigentlich den Alltag einfacher machen. Für seheingeschränkte Menschen gilt das nicht - im Gegenteil.

"Touchscreens, die ohne sprachliche oder haptische Alternativen auskommen, schließen seheingeschränkte Menschen systematisch aus", kritisiert Heiko Kunert, Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH). Zum bundesweiten Sehbehindertentag am Freitag fordern der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) und die Landesvereine mehr barrierefreie Bildschirme.

"Touchscreens haben sich in den vergangenen Jahren zu einem zentralen Bedienelement im Alltag entwickelt. Auch im öffentlichen Raum kommen sie immer häufiger vor, etwa bei Self-Scan-Supermarktkassen, bei Fahrkarten- oder Geldautomaten oder in der Gastronomie", sagt Konstantin Peveling, Referent für Barrierefreiheit beim Branchenverband Bitkom in Berlin. Deshalb sei es umso wichtiger, dass solche Technologien für alle zugänglich sind - auch für Menschen mit Sehbehinderungen und blinde Personen.

Aktuell scheitern sehbehinderte Menschen oft an kontrastarmen Darstellungen. Häufig blende die Beleuchtung des Monitors und die Schrift sei kaum lesbar, kritisiert der BSVH. Kunert: "Hier führt digitale Technik zur digitalen Ausgrenzung." Auch Ulrike Gerstein musste Einkäufe abbrechen, weil sie bei der Bezahlung am Touchscreen scheiterte. "Es ist, als würde man aus dem Leben fallen", sagt Gerstein, die nicht immer ihren Mann um Hilfe bitten möchte.

Geräte barrierefrei gestalten

So wie ihr geht es vielen Menschen. Laut Hochrechnungen auf Basis von Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO leben mehr als eine Million sehbehinderte Menschen in Deutschland. Mit dem demografischen Wandel werde die Zahl der Menschen mit Seheinschränkungen weiter steigen, sagt Kunert. "Was heute als Barriere für eine Minderheit erscheint, betrifft morgen eine große Bevölkerungsgruppe."

Er fordert Hersteller und Betreiber auf, Geräte barrierefrei zu gestalten. "Es geht nicht um futuristische Technik, sondern um ganz praktische Alltagslösungen. Technische Lösungen wie Sprachausgabe oder taktile Markierungen existieren längst - sie müssen nur eingesetzt werden", sagt der BSVH-Chef. Auch Bitkom-Experte Peveling betont, dass die Technik für barrierefreie Geräte vorhanden ist: "Kontrastreiche Darstellungen, Zoomfunktionen, Sprachausgabe oder auch haptisches Feedback können die Nutzung deutlich erleichtern." Entscheidend sei, dass diese Funktionen auch konsequent integriert werden.

Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, das am 28. Juni in Kraft tritt. "Es schreibt vor, dass neu auf den Markt gebrachte Bezahlterminals und Ticketautomaten barrierefrei gestaltet sein müssen, unter anderem durch eine kontrastreiche Darstellung", erklärt Peveling. Zusätzlich müsse es eine alternative Bedienung geben, etwa eine Audioausgabe oder Fernsteuerung über das eigene Smartphone.

Ulrike Gerstein hofft, dass sich die neuen, barrierefreien Geräte schnell durchsetzen. Bis es so weit ist, bezahlt sie fast immer mit Bargeld. "Einkaufen gehe ich auf dem Wochenmarkt und im kleinen Supermarkt bei mir um die Ecke", erzählt die 80-Jährige. Kompliziert wird es, wenn sie mal ans Meer will. Urlaub sei ohne Touchscreen-Nutzung kaum möglich. "Es macht mich wütend, dass ich immer mehr eingeschränkt werde", sagt Gerstein, die einfach nur selbstbestimmt leben möchte.