Eigentlich wollte Erwin Ritter an jenem Tag im Juli 1941 nur einen Freund begrüßen, der in einem Kaffeehaus am Prager Wenzelsplatz saß. Drei Seiten lang ist das Gnaden-Gesuch, das er danach geschrieben hat: Höchstens einen Schritt habe er ins Café gesetzt, schreibt er darin, und er wisse schließlich, dass der Cafébesuch für Juden wie ihn verboten sei. Wer heute auf dem Wenzelsplatz steht, kann auf seinem Smartphone den Brief Erwin Ritters als Scan abrufen - und dazu noch weit mehr als 1.000 weitere Dokumente aus der Zeit der NS-Besatzung in Prag zwischen 1939 und 1945.
Sie vermitteln ein eindrückliches Bild davon, wie die jüdische Bevölkerung von den Nationalsozialisten gegängelt und schließlich ermordet wurde. "Wir wissen unheimlich viel über das Schicksal der Menschen damals", sagt Magdalena Sedlická, "jetzt wollen wir die Daten und Dokumente in die Stadt zurückbringen." Die Historikerin vom Masaryk-Institut der tschechischen Akademie der Wissenschaften koordiniert das Projekt MemoMap.cz.
Die gleichnamige Webseite gibt es auf Tschechisch und Englisch. Wer mit der interaktiven Karte der Webseite durch das Prag von heute spaziert, fühlt sich wie in einer Zeitkapsel, die in der Phase der brutalsten Judenverfolgung gelandet ist: Straße für Straße, Haus für Haus ist das Schicksal der damaligen jüdischen Bewohner verzeichnet.
Genau 41.645 Juden und Jüdinnen lebten im Jahr 1941 in Prag, und jeder und jede von ihnen ist an seiner damaligen Wohnadresse in der Karte vermerkt, zusammen mit Lebensdaten und oft sogar mit einem Passfoto. Und manchmal, wie im Fall von Erwin Ritter, auch mit weiteren Informationen wie dem Verstoß gegen die absurden Gesetze jener Zeit. Ritter wurde im Juli 1942 zunächst nach Theresienstadt deportiert und von dort aus am nächsten Tag weiter. Die Nazis ermordeten ihn; das genaue Todesdatum ist nicht bekannt.
Grundlage ist ein Stadtplan von 1938
Generationen von Forschern vor Magdalena Sedlická haben über Jahrzehnte alles zusammengetragen, was es über die Prager Juden gibt - Meldedokumente, Geburtenregister, die erschütternden Akten über die Deportationen, Zeitungsmeldungen, Polizei-Unterlagen. Aber alles lagerte in Archiven. Zusammen mit dem "Institut der Theresienstädter Initiative" und dem Multikulturellen Zentrum Prag ist nun diese virtuelle Zeitmaschine entstanden, die die Daten dorthin zurückbringt, wo die Menschen früher gelebt haben.
"Als Grundlage haben wir einen Stadtplan von 1938 genommen", erläutert Historikerin Sedlická: Etwas vergilbt wirkt er an der Oberfläche, in ihm finden sich die Straßenbezeichnungen von früher. Diese alte Karte haben die Wissenschaftler mit dem Stadtplan von heute verbunden. Wer auf dem Smartphone auf ein Symbol klickt, wird mittels der Ortungsfunktion direkt an jene Stelle des alten Plans geführt, an der er sich gerade befindet. Aber das ist erst der Beginn der Zeitreise.
In einem nächsten Schritt lässt sich entscheiden, welche Fährte man aufnehmen möchte. Die der Bewohner? Dann erscheinen auf dem Stadtplan plötzlich kleine Kästchen in jedem einzelnen Haus der Stadt: Mit zwei weiteren Klicks kommt man auf die Namen und Porträtfotos der Juden, die dort gelebt haben, auf die Geburts- und Sterbedaten. Man sieht die Gemeindehäuser, man sieht jüdische Jugendhäuser und Altersheime, jüdische Redaktionen.
Verhaftungen, Strafmaße und Gnaden-Gesuche
Oder doch lieber die verbotenen Orte? Plötzlich färben sich große Teile des Stadtplans in Rot: Das alles sind die Bereiche, die Juden nicht betreten durften: der Wenzelsplatz, die Uferstraßen, die Museen, die Parks, das Nationalmuseum; ganze Straßenzüge werden zur Tabuzone. Oder lieber die Vorkommnisse? Mit einem Ausrufezeichen sind auf dem Stadtplan jene Stellen markiert, an denen ein Jude wegen eines Vergehens festgenommen wurde. Ein weiterer Klick, und man kommt zum Protokoll der Verhaftung, sieht die Strafmaße und manchmal sogar die später erfassten Gnaden-Gesuche.
"Wir haben bewusst keine Stadtführung daraus gemacht, bei der man an einem konkreten Punkt startet und entlang einer vorgegebenen Route durch die Stadt geht", erläutert Magdalena Sedlická. Jeder solle seine eigenen Winkel der Stadt ergründen können auf der Suche nach der historischen Dimension, jeder Besucher an zufällig gewählten Punkten stehenbleiben und nachschauen können. Gerade, dass es überall in der Stadt jüdisches Leben gab und nicht bloß im vermeintlich "jüdischen Viertel", ist eine der Erkenntnisse - und auch, wie vielseitig das jüdische Leben war.
Ein Vorbild fanden die Forscher in Österreich: "Memento Wien ist für uns ein Vorbild und wir sind mit unseren Kollegen dort in engem Austausch", berichtet Sedlická - aber die meisten Schichten der Webseite, von den jüdischen Einrichtungen über die Verbotszonen bis zu den Polizeiprotokollen, gibt es nur in Prag. Das Forscher-Team hofft jetzt, dass das Prager Modell europaweit Schule macht. Entstanden ist es nämlich im Rahmen der sogenannten European Holocaust Research Infrastructure - eines Programms, an dem viele EU-Länder beteiligt sind.
Die Technik, die der Prager MemoMap zugrunde liegt, lässt sich vergleichsweise einfach auf andere Städte übertragen. In Ricany, einer Stadt im Prager Speckgürtel, soll daraus jetzt sogar ein Schülerprojekt werden, bei dem Jugendliche von der Datenrecherche bis zur Umsetzung die Aufgaben übernehmen. Eine wichtige Lektion gegen den Antisemitismus sollen die Erkenntnisse transportieren, wie Sedlická hofft: dass das jüdische Leben ganz selbstverständlich zu der Stadt gehörte, in der sie heute Schüler sind. Und dass all die Gräueltaten nicht irgendwo anders passierten, sondern direkt vor ihrer Haustür und entlang der Wege, die sie heute täglich gehen.