Eine zierliche alte Dame, elegant gekleidet, mit großen wachen Augen unter dem widerspenstigen weißen Haar - die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer war noch mit mehr als 100 Jahren in all ihrer Zartheit eine beeindruckende Persönlichkeit. Am Freitag ist die gebürtige Berlinerin, die sich unermüdlich als Zeitzeugin gegen ein Vergessen der NS-Verbrechen engagiert hat, mit 103 Jahren gestorben.
Wenn sie zu sprechen begann, Auskunft über ihr Leben gab, vergaß man ihr hohes Alter sofort. Spielend zog sie Zuhörende in den Bann, zuletzt noch vor wenigen Tagen im Roten Rathaus in Berlin, wo sie auf der Gedenkveranstaltung des Senats zum 80. Jahrestag des Kriegsendes appellierte: "Bitte seid Menschen!"
Am Freitag hätte sie in ihrer Geburtsstadt, deren Ehrenbürgerin sie seit 2018 war, von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland erhalten sollen. Dazu ist es nicht mehr gekommen.
Margot Friedländer wurde am 5. November 1921 geboren, verbrachte eine glückliche Kindheit und musste dann als Jüdin die leidvolle Erfahrung der Verfolgung durch die Nationalsozialisten machen. Die Eltern und ihr Bruder wurden Opfer der Schoah, sie selbst überlebte nur knapp.
"Es war mein Berlin"
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging Margot Friedländer mit ihrem Mann nach New York, sie besaß die amerikanische Staatsbürgerschaft. Erst 2003 besuchte sie erstmals wieder ihre Heimatstadt, 2010 kehrte sie endgültig nach Berlin zurück. Ressentiments und Verbitterung waren ihr fremd. Sie sagte gern: "Ich bin so froh, in einer so schönen Stadt geboren zu sein, ich war so glücklich hier zu sein, ich konnte atmen, es war mein Berlin."
Geboren wurde sie als Margot Bendheim in Berlin-Kreuzberg und wuchs in einer wohlhabenden jüdischen Familie auf. Ihr Vater besaß ein Geschäft im Modeviertel am Hausvogteiplatz. Ab 1933 bekam sie als Jugendliche die politischen Veränderungen mit, Verwandte und Freunde emigrierten. Ihr Vater, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, entschloss sich erst 1939, in letzter Minute, nach Belgien zu fliehen. 1942 wurde er ermordet.
Nach ihrer Schulzeit besuchte Margot Friedländer eine Modezeichenschule. Als sich die Eltern 1937 scheiden ließen, begann sie eine Schneiderlehre. Mit der Mutter und ihrem jüngeren Bruder zog sie zunächst in eine Pension, ab 1939 lebte die Familie bei den Eltern der Mutter.
1941 wurden sie in eine sogenannte "Judenwohnung" eingewiesen. Die beiden Frauen waren nicht zu Hause, als Ende Januar 1943 die Gestapo klingelte und den Bruder abholte. Daraufhin stellte sich die Mutter freiwillig der Polizei, sie wollte den Sohn nicht allein gehen lassen. Beide wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Nasen-OP, um weniger "jüdisch" auszusehen
Kurz zuvor hatte die Mutter einer Nachbarin eine Handtasche mit einer Bernsteinkette und einem Notizbuch für die Tochter übergeben. Ihre Botschaft: Versuche, dich zu retten. Jahrzehnte später erzählte Margot Friedländer: "Ich könnte mir vorstellen, dass meine Mutter dachte, ich sei stark genug. Ich war vielleicht sogar als junges Mädchen draufgängerisch. Ich kann mir vorstellen, dass meine Mutter gehofft und gebetet hat, dass ich es schaffe."
Sie war 21 Jahre alt, riss sich den Judenstern vom Mantel, färbte sich die Haare rot, ließ sich sogar die Nase operieren, um weniger "jüdisch" auszusehen, und tauchte unter. 16 Menschen haben ihr geholfen, immer wieder neue Verstecke zu finden. "Sie haben immer versucht, mir ein Bett zu geben, mir ein Essen zu geben", hat sie darüber gesagt: "Man brauchte nicht mit den Menschen politisch über Bücher, Musik zu sprechen. Man hat gekämpft, um zu überleben, diese Menschen auch."
Noch im Lager vom Rabbiner getraut
15 Monate lebte sie im Untergrund mit ständig wechselnden Aufenthaltsorten. Die Kette und das Notizbuch behielt sie immer bei sich. Im April 1944 wurde sie bei einer Ausweiskontrolle auf dem Kurfürstendamm aufgegriffen und dann ins KZ Theresienstadt deportiert. Dort traf sie ihren späteren Mann, Adolf Friedländer, den sie bereits aus Berlin kannte. Beide überlebten und ließen sich 1945 noch im Lager von einem Rabbiner trauen. 1946 emigrierte das Paar in die USA.
Mehr als zehn Jahre nach dem Tod ihres Ehemannes entschied sich Margot Friedländer mit 88 Jahren, nach Berlin zurückzuziehen. Seither sprach sie auf unzähligen Veranstaltungen über ihr Leben, redete Politikern ins Gewissen. Tausende von Schülerinnen und Schülern zog sie mit ihren Erfahrungen im NS-Deutschland und ihrem Kampf um das Überleben in den Bann.
Ihre Mission, so formulierte sie immer wieder, sei das Weitergeben ihrer Geschichte insbesondere an junge Menschen. "Ich spreche für die, die es nicht geschafft haben", betonte sie dabei: "Was ich jetzt mache, ist für die Jugend. Sie soll wissen: Was war, das können wir nicht mehr ändern, aber es darf nie wieder geschehen."
Den zunehmenden Antisemitismus, das Erstarken des Rechtsextremismus beobachtete sie mit Sorge und Trauer. Die Angst, die viele Jüdinnen und Juden heute wieder empfinden, könne sie verstehen, sagte sie unlängst in einem Interview: "So hat es damals auch angefangen. Doch weil wir ja sehr jung waren, haben wir es nicht geglaubt." Hass war ihr fremd, sie appellierte, sich für alle einzusetzen, denen Unrecht widerfährt: "Seid Menschen!"