Unweit der chaotischen Piazza Venezia im Herzen Roms, ein paar Schritte vom Kapitol entfernt, steht eine unscheinbare Kirche: Santa Maria in Aracoeli. Die Kirche liegt im X. römischen Rione Campitelli auf dem Kapitolshügel zwischen dem Nationaldenkmal für Viktor Emanuels II. auf der Nordseite und dem Palazzo Nuovo auf der Südseite. Ich steige die steile Treppe hoch und trete ein. Mich umfängt eine fast heilige Stille, und ich wundere mich, dass kaum Menschen in der Kirche sind. Gerade im Heiligen Jahr, dem Giubileo 2025, platzt Rom aus allen Nähten.
Der erste historisch belegbare Kirchenbau an dieser Stelle, dem ein Kloster mit griechischen Mönchen angeschlossen war, geht auf die Zeit Papst Gregors des Großen (6. Jahrhundert) zurück. Ich setze mich auf eine Bank und schlage meinen Reiseführer auf. "Kraftort Rom – Spirituelle Streifzüge" von Corinna Mühlstedt und Notker Wolf ist ein besonderer Stadtführer, denn er listet nicht die üblichen Touristenattraktionen auf, sondern begleitet den Pilger auf einer spirituelle Reise durch Rom.
Es wundert mich nicht, dass diese Kirche unter dem Kapitel "Neue Wege gehen und Brücken bauen" erwähnt wird, denn die Kirche wurde 1249 von Papst Innozenz IV. dem Franziskanerorden übergeben. Franziskus von Assisi war beim fünften Kreuzzug in Damiette dabei und hat 1219 sogar den Sultan getroffen, um zwischen den Christen und Muslimen zu vermitteln. Die Kirche verfügt auch über ein wundertätiges Christkind, das einer Legende nach in Jerusalem von einem Franziskaner aus dem Holz eines Olivenbaums vom Garten Getsemani geschnitzt wurde. Da dem Ordensmann die nötige Farbe fehlte, um das Werk fertigzustellen, sei ein Engel erschienen, der die Arbeit eigenhändig beendet habe.
Nach ihrem Volontariat in der Pressestelle der Aktion Mensch arbeitete Alexandra Barone als freie Redakteurin für Radio- und Print-Medien und als Kreativautorin für die Unternehmensberatung Deloitte. Aus Rom berichtete sie als Auslandskorrespondentin für Associated Press und für verschiedene deutsche Radiosender. Seit Januar 2024 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig.
Auch auf dem Weg nach Rom wird von einem wundersamen Geschehen berichtet – auf der Seereise herrschte ein unheimlicher Sturm und der kostbare Schatz fiel ins Meer, er schwamm aber dem Schiff hinterher und erreichte den Hafen Livorno ganz alleine und unbeschadet, von wo man ihn nach Rom brachte. Ich pilgere zu der kleinen Kapelle mit dem Jesuskind und betrachte die vielen Bittbriefe, die zahlreiche Pilger vor mir geschrieben haben. Auf dem Weg nach draußen sehe ich eine kleine Ausstellung, in der die Franziskaner auf das Leid der unschuldigen Menschen, die unter dem Krieg in Israel leiden.
Umdenken und dem Ruf folgen
Ich gehe weiter und nähere mich dem historischen Zentrum Roms. Direkt neben dem Senatsgebäude der italienischen Regierung befindet sich die Kirche San Luigi dei Francesi. Zwischen 1518 und 1589 errichtet, ist sie König Ludwig IX. von Frankreich geweiht. Als Titelkirche haben sie stets die Kardinäle inne, die auch Erzbischöfe von Paris sind. Die Kirche beherbergt zahlreiche Kunstschätze, doch ich laufe direkt zur größten Attraktion: die Contarelli-Kapelle mit den drei Gemälden vom italienischen Künstler Michelangelo Merisi, auch unter dem Namen Caravaggio bekannt. Die Bilder zeigen die Berufung des Heiligen Matthäus, sein Martyrium sowie die Niederschrift des Evangeliums mit einem Engel.
Die zwischen 1599 und 1602 entstandenen Gemälde waren Caravaggios erster Großauftrag, den er durch seinen frühen Förderer Kardinal Francesco Maria del Monte erhielt. Ich lasse die Atmosphäre auf mich wirken, die von den Bildern vermittelt wird. Geschildert werden drei Szenen im Leben des Apostels. Von dem Bild von Matthäus‘ Berufung bin ich fasziniert. In der rechten oberen Ecke des Bildes sehe ich den angedeuteten Arm Jesu, dessen Finger auf Matthäus zeigen. Diesen wiederum setzt Caravaggio ins Licht, damit man seine Verwunderung sieht: Ihn, den Zöllner, hat Jesus zu einem seiner Apostel erwählt? Das Bild lässt keinen Zweifel, daher haben Mühlstedt und Wolf diesen spirituellen Ort auch unter dem Kapitel "Umdenken/Dem Ruf folgen" gelistet.
Ein deutschsprachiger Papst will Kirche erneuern
Ich gehe über die Piazza Navona, vorbei an Souvenirläden und Menschenmassen, die von Touristenführern mit ihren kleinen Fähnchen durch die chaotische Stadt geleitet werden. Wieder tauche ich ein in eine kleine, stille Gasse. Nach einigen Metern taucht eine unscheinbare Kirche auf: Santa Maria dell’Anima. Als Martin Luther 1517 seine Thesen an das Domportal in Wittenberg anschlug, war man in Rom gerade dabei, die deutsche Nationalkirche Santa Maria dell'Anima von Grund auf zu erneuern. Das von einer Bruderschaft geführte Anima-Hospiz war bereits seit dem Mittelalter eine Anlaufstelle für Menschen aus dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches. Die Kirche geht auf eine private Hospizstiftung aus dem 14. Jahrhundert zurück, die für Rompilger aus dem Heiligen Römischen Reich gegründet worden war.
Am Altar befindet sich auf der rechten Seite das Grab des Papstes Hadrian VI., im Deutschen auch unter dem Namen Adrian von Utrecht bekannt, der am 9. Januar 1522, nach dem Tod von Papst Leo X., zu dessen Nachfolger gewählt wurde. Hadrian VI. hatte es nicht leicht: Er sah sich von Anfang seines Pontifikats an mit großen Problemen konfrontiert. Zuerst hatte er auf die beginnende lutherische Reformation im Heiligen Römischen Reich zu reagieren. Hadrian bemühte sich, eine Kirchenspaltung zu verhindern. Mit einer durchgreifenden Reform der Kirche versuchte er, die Auswirkungen der Reformation aufzuhalten. Unter anderem schränkte Hadrian den Luxus der päpstlichen Hofhaltung ein, ebenso die Gewährung von Pfründen. Die Risse waren jedoch bereits zu groß.
Im Petersdom meditieren
Durch kleine verwinkelte Straßen gehe ich zum Zentrum der Christenheit: dem Petersdom. Nach der traditionellen Ostermesse und dem "Urbi und Orbi" und dem darauffolgenden Tod von Papa Francesco hat der Andrang ein wenig nachgelassen. Nichtsdestotrotz stehen die Pressewagen bereit, denn am 7. Mai beginnt das Konklave und der neue Papst wird gewählt. Ich nutze die Gunst der Stunde und stelle mich in die Schlange der vielen Petersdom-Besucher und in nur 30 Minuten bin ich im Allerheiligsten.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich den Petersdom besuche, aber immer wieder bin ich beeindruckt und weiß gar nicht, wo ich zuerst hinschauen soll: die Maria von Michelangelo, die ihren toten Sohn in den Armen hält? Oder der Papstaltar in der Mitte der imposanten Basilika di San Pietro, unter dem sich die Confessio und das Petrusgrab befinden? Ich setze mich einfach nur auf eine der Bänke und lass alles auf mich wirken, denn trotz der vielen Menschen und zahlreichen Touristengruppen herrscht eine beeindruckende Stille, die zum Meditieren einlädt.
Auf den Spuren Luthers
Doch lange verweilen kann ich nicht, denn ich habe ein Treffen mit der Autorin des Buches vereinbart. Leider ist sie alleine, denn der Benediktiner-Abt Notker Wolf ist kurz vor der Veröffentlichung des Buches verstorben. Ich nehme also die Metro und fahre an die Piazza del Popolo. Dort steht die Kirche Santa Maria del Popolo. Am Eingang erwartet mich bereits Corinna Mühlstedt. Wir treten in die kühle Stille der Kirche und gehen zur Capella del Crocefisso. "Hier soll Martin Luther seine Messen gefeiert haben, die für seine italienischen Brüder oft viel zu gründlich waren und viel zu lange dauerten", weiß Corinna Mühlstedt zu berichten.
Dass Luther in Rom war, ist ohne Zweifel. 1511 ist er als Augustiner-Mönch in die Ewige Stadt gepilgert. Da die Kirche 1250 an den Orden der Augustiner aus Tuszien kam und 1472 an den Augustinereremitenorden der Lombardischen Kongregation, ist anzunehmen, dass Luther während seines Rom-Aufenthalts hier gewohnt hat, da er als Augustinermönch der Lombardischen Kongregation hier Gastrecht hatte.
Im ökumenischen Gedanken entstanden
Gemeinsam mit Notker Wolf hat die Autorin diese wundervollen Orte Roms zusammengestellt, von denen ich fünf besucht habe. Insgesamt listet das Buch 28 spirituelle Orte auf. Nicht nur berühmte Kirchen wie der Petersdom sind mit dabei, sondern auch spirituelle Geheimtipps, fern der üblichen Touristenstrecken. "Die Massen an Pilgern, die zum Jubiläum 2025 nach Rom kommen, sollen nicht nur eine chaotische Stadt erleben und schnelle Eindrücke sammeln. Vielmehr wollten wir ihnen die Möglichkeit geben, tiefer zu schürfen und für sich selbst – für ihr Herz – etwas mit nach Hause zu nehmen," erklärt die evangelische Theologin, die bereits seit über 30 Jahren als Korrespondentin aus Rom berichtet. Diese jahrelange Rom-Erfahrung und die Liebe zur Stadt hat sie mir Notker Wolf geteilt.
"Wir haben seit 30 Jahren zusammengearbeitet und haben festgestellt, dass wir beide unterschiedliche Orte – weitab von den üblichen Touristenpfaden - entdeckt haben, die für uns spirituell wertvoll sind", so Mühlstedt. Dieses Wissen wollten die beiden mit anderen teilen. Das Buch ist mit dem ökumenischen Gedanken entstanden, es ist also für alle Interessierte gedacht, unabhängig davon, ob sie katholisch, evangelisch, konfessionslos sind oder aber anderen Religionen folgen. "Wer will, kann natürlich auf diesen spirituellen Streifzügen nach Erfahrungen mit Gott suchen, aber es ist kein Muss. Man kann auch einfach nur meditieren und nachdenken, um im eigenen Leben mehr Sinn und Orientierung zu finden."
Kraftort Rom - Spirituelle Streifzüge von Corinna Mühlstedt und Notker Wolf OSB, Taschenbuch, 208 Seiten, 21.5x13.5 cm, ISBN 978-3-98790-059-4