TV-Tipp: "Die Augenzeugen"

Fernseher vor gelbem Hintergrund
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3. Mai, ARD, 20.15 Uhr:
TV-Tipp: "Die Augenzeugen"
Auf den ersten Blick klingt die Handlung dieses vierteiligen Thrillers überschaubar: Zwei Teenager werden zufällig Zeugen eines mehrfachen Mordes, gehen aber aus Angst, selbst zu Zielscheiben des Mörders zu werden, nicht zur Polizei. Mit fatalen Folgen.

Natürlich kriegt der Killer irgendwann trotzdem raus, dass er beobachtet worden ist; und jetzt geht die Geschichte erst richtig los.

"Die Augenzeugen" basiert auf einer norwegischen Serie aus dem Jahr 2014, die international erfolgreich unter dem Titel "Eyewitness" gehandelt wurde (2015 lief sie auf Arte). Die deutsche Adaption ist nicht die einzige Neuverfilmung. Es muss also ein Merkmal geben, dass den Handlungsentwurf deutlich von vergleichbaren Produktionen unterscheidet. Ein ganz wesentlicher Aspekt ist das Personal. In klassischen Genres wie Western, Krimi oder Horrorfilm zeichnen sich die wichtigsten Figuren zumeist durch ein zentrales Wesensmerkmal aus. Hier jedoch spielen alle Beteiligten mindestens zwei Rollen. Natürlich ist die ermittelnde Kommissarin vor allem Polizistin, aber ebenso bedeutsam ist ihre Funktion als Ersatzmutter: Helen Severing (Nicolette Krebitz) hat sich in die Provinz versetzen lassen, um sich um ihren Neffen zu kümmern.

Die von der ARD-Tochter Degeto in Auftrag gegebene Version ist zwar zwei Folgen kürzer als das Original, aber aufgrund der personellen Konstellation beeindruckend komplex: Alle Personen besitzen eine Besonderheit, die sie verletzlich und daher angreifbar macht. Das gilt auch für die Gegenspieler: Der von Lucas Gregorowicz als cooler Killer verkörperte Roman Berg entpuppt sich als liebevoller Familienvater. Selbst der melancholische Mafia-Boss Vincenzo Fontana (Michele Cuciuffo) und sogar der skrupellose Präsident (Shenja Lacher) einer Rocker-Gang haben durchaus sympathische Momente. Andererseits gibt es auf Seiten der Guten einige schwarze Schafe: Helens Nachfolgerin (Lana Cooper) in der Abteilung Organisierte Kriminalität bei der Kripo München hat überhaupt keine Lust, sich von der Vorgängerin in die Arbeit pfuschen zu lassen, als die Mordermittlungen in die Landeshauptstadt führen; und in Helens engstem Umfeld gibt es einen Maulwurf der Gangster. 

Die Geschichte spielt im oberbayerischen Miesbach, die Gegend ist viel zu schön für skrupellose Gewalttaten. Tatsächlich sind die Morde gewissermaßen das Ergebnis einer Verwechslung: Fontanas Teenager-Tochter Francesca (Julia Anna Grob) hat sich unsterblich in Berg verliebt. Eigentlich hatten es die drei Rocker, die ihr am Hauptbahnhof aufgelauert haben, auf das Mädchen abgesehen; stattdessen ist der Geliebte im Kofferraum gelandet. Bei einer Waldhütte, die den "Balkan Barbarians" als Drogenversteck dient, wollen sie kurzen Prozess mit Berg machen, aber der dreht den Spieß um. Nach getaner Tat wäre der unfreiwillige Ausflug zumindest aus seiner Sicht bloß noch eine tödliche Anekdote, aber da sind ja noch die zwei Jungs, und nun beginnt eine Geschichte, die weitgehend ohne die üblichen Spannungsverstärker auskommt und trotzdem fesselt. 

Es ist ohnehin beeindruckend, wie sich gleich mehrfach und ausnahmslos überraschend einige Kreise schließen: Helen ist nach dem Drogentod ihrer Schwester in die alte Heimat gezogen, weil ihr sechzehnjähriger Neffen Jan außer ihr niemanden mehr hat; er ist einer der beiden Jungs, die sich in der Hütte zum ersten Mal näher gekommen sind. Bergs Tochter Hannah (Paulina Hobratschk) ist ihre Mitschülerin. Entsprechend groß ist das Risiko, dass sich die Augenzeugen und der vermeintliche Profikiller auf dem Schulgelände über den Weg laufen; zumindest Jan hat er bei der Hütte in die Augen gesehen. Dank eines echten inhaltlichen Knüllers ist er zudem stets auf dem Laufenden, was die Ermittlungen betrifft. 

Gerade die jugendlichen Mitwirkenden sind ausnahmslos sehr präsent und von Anna-Katharina Maier ausgezeichnet geführt. Weil das adaptierte Drehbuch so gut ist, kann es sich die Regisseurin, die von "Der Beischläfer" (2020) und "Damaged Goods" (2022, beide Amazon Prime) bis zu "Tage, die es nicht gab" (2023, ARD) in den letzten Jahren einige beachtliche Serien gedreht hat, leisten, dem Geschehen einfach zuzuschauen: Die Bildgestaltung (Holger Jungnickel) hat hohes Niveau, kommt jedoch gänzlich ohne optische Raffinesse aus. Für Spannung sorgen neben den zum Teil fiesen Cliffhangern in erster Linie die gute elektronische Musik (Jaro Messerschmidt, Nik Reich) sowie natürlich die Frage, ob und wie die verschiedenen Beteiligten heil aus der Sache rauskommen. Das "Erste" zeigt alle Folgen am Stück.