TV-Tipp: "Tatort: Am Tag der wandernden Seelen"

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5. Mai, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Am Tag der wandernden Seelen"
Die Harmlosigkeit der ersten Bilder ist ebenso irreführend wie der poetische Titel: Der zweite "Tatort" mit Mark Waschke und Corinna Harfouch ist ziemlich grausig.

Der Film beginnt mit einer typischen Alltagsszene: Zwei Mädchen streiten sich um die Fernbedienung einer Drohne, das Gerät macht sich selbstständig und fliegt über die Hecke in den nächsten Garten. Den erstochenen Nachbarn stört das allerdings nicht mehr. Die Zahl der Stiche lässt vermuten, dass jemand sehr wütend war; oder sehr verzweifelt. 

Die Kamera nimmt sich viel Zeit, um die Routinearbeit der Polizei zu beobachten und gemeinsam mit dem Hauptkommissar durchs das mit vielen Schlössern gesicherte, aber antidigitale Haus zu streifen: kein Computer, kein Smartphone, statt dessen Videokassetten und ein altes Tastentelefon; "Willkommen in den Neunzigern", kommentiert Karow. Schließlich entdeckt er eine versteckte Tür, und nun wird es finster: Im Keller des Hauses ist eine Frau gefangen gehalten worden; allerlei Gerätschaften lassen erahnen, was ihr hier widerfahren ist. Offenbar hat sie sich befreien können und dafür gesorgt, dass ihr Peiniger nie wieder irgendwem ein Leid zufügen wird. Theoretisch wäre der Fall damit erledigt: Der Täter ist tot, das geflohene Opfer hat in Notwehr gehandelt.

Allerdings zeigt sich bei der Untersuchung des Tatorts, dass der Mann noch weitere Frauen gequält hat. Karow nimmt sich die VHS-Kassetten vor. Die meisten sind harmlos, aber die Bänder mit dem Titel Weihnachten 1, 2 und 3 dokumentieren, was im Keller passiert ist; und eine der Aufnahmen lässt keinen Zweifel daran, dass der Hausbesitzer einen Komplizen hatte. 

Zu einem besonderen Sonntagskrimi wird "Am Tag der wandernden Seelen" durch die Bildgestaltung, weil Regisseurin und Koautorin Mira Thiel (Buch und Idee: Josefine Scheffler) die Geschichte gemeinsam mit ihrem Kameramann Moritz Anton auf ungewöhnliche Weise umgesetzt hat: Die Farben sind kräftig, was im Grunde nicht zur düsteren Geschichte passt, wirken aber wie zu heiß gewaschen und dadurch kontrastarm. Auch inhaltlich setzt der Film einen Akzent, der den neunzehnten Fall für Robert Karow aus dem Rahmen fallen lässt. Natürlich will das Duo die Identität der Opfer herausfinden. Die Spur führt in die vietnamesische Community und somit ebenfalls zurück in die frühen Neunziger, in die "Baseballschlägerjahre", wie Susanne Bonard (Harfouch) diese Zeit nennt, als sich nach der Wiedervereinigung auch die einst ins sozialistische Bruderland DDR eingewanderten Menschen aus Vietnam an die neuen Gegebenheiten anpassen mussten; damals konnten sich viele nur mit dem illegalen Handel geschmuggelter Zigaretten über Wasser hielten. Für den historischen Hintergrund sorgt vor allem Quereinsteigerin Bonard, die jene Jahre als Lehrerin miterlebt hat. Hauptfigur dieses Erzählstrangs ist eine vietnamesische Tierärztin (Mai-Phuong Kollath), die auf zwar unfreiwillige, aber dennoch unheilvolle Weise in die Verbrechen verstrickt ist. 

Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang eine weitere Mitwirkende mit vietnamesischen Wurzeln: Trang Le Hong spielt eine ehrgeizige junge Kollegin aus der LKA-Abteilung Organisierte Kriminalität, die ihre Ermittlungen gegen eine Schleuserbande durch das Auftauchen von Karow und Bonard gefährdet sieht. Widerwillig lässt sich Pham Thi Mai trotzdem auf eine Zusammenarbeit ein. Auf diese Weise können Scheffler und Thiel einen Aspekt thematisieren, der oft ignoriert wird: Die Menschen, die einst in die DDR gekommen sind, stammten aus dem Norden Vietnams; in die BRD kamen die sogenannten Boatpeople, die Flüchtlinge aus dem Süden. Die OK-Ermittlerin ist "Next Generation", sie will solche Differenzierungen hinter sich lassen, versorgt Karow aber mit Informationen über die ihm bis dahin völlig fremden Sitten und Gebräuche. Das gilt insbesondere für die Ehrung der Verstorbenen; auf den entsprechenden Gedenktag bezieht sich der Titel des Films. Höhepunkt in dieser Hinsicht ist der abschließende Besuch beim "Vu Lan"-Fest; es ist mehr als respektabel, dass die buddhistische Gemeinde Berlin-Lichtenbergs die Dreharbeiten gestattete. 

Regisseurin Thiel hat zuletzt die allerdings eher enttäuschende zweite Staffel der ARD-Erfolgsserie "Unsere wunderbaren Jahre" (2023) gedreht, davor aber unter anderem den sehenswerten letzten "Tatort" aus Weimar, "Der feine Geist" (2021). Beim Krimi sorgt sie regelmäßig für Wechselbäder. Einige Momente sind plakativ, andere wirken indirekt: Als sich Karow die Kassetten anschaut, genügt ein Blick in sein Gesicht, um den Horror der Bilder zu vermitteln.