Kurz zuvor hatte sie, als der Mann sie zum Tanz aufforderte, zu einem Messer gegriffen, aber auch dies entpuppte sich als Wunschtraum. Sportliche Siege sind nicht zuletzt Kopfsache, Visualisierung ist daher eine verbreitete Methode, um unmittelbar vor dem Wettkampf den Geist zu fokussieren. Genauso verhält sich die Triathletin Nathalie, nachdem sie beim abendlichen Fahrradtraining entführt worden ist: Sie stellt sich vor, wie sie den Entführer überlistet.
Das "True Crime"-Drama "Ohne jede Spur – Der Fall der Nathalie B." schildert jene nächtlichen Stunden, in denen sich die Österreicherin Nathalie Birli im Sommer 2019 in der Gewalt eines offenbar psychisch gestörten Einzelgängers befunden hat.
Das Drehbuch (Jonas Brand, Lia Perez) erlaubt sich zwar die eine oder andere künstlerische Freiheit, hält sich im Prinzip jedoch an die Tatsachen. Die Handlung konzentriert sich im Wesentlichen auf die Ereignisse im Haus des Entführers. Gerade darstellerisch sind diese Szenen überaus fesselnd. Bei Luise von Finckh sorgt schon allein die Bildgestaltung für Empathie, weil die Kamera (Mario Minichmayr) stets ganz nah bei ihr ist. Die Leistung ihres Spielpartners ist dagegen auf fast schon gruselige Weise faszinierend, weil Dominic Marcus Singer den Mann als Kombination zweier Persönlichkeiten verkörpert: Die eine ist höflich und beinahe rührend um Nathalies Wohl besorgt; in diesem Phasen sagt er "Sie" und behandelt Nathalie wie einen Gast. Ist sie ihm jedoch nicht zu Willen, wechselt die Laune blitzartig. In anderem Zusammenhang wäre wohl von seinem "wahren Gesicht" die Rede, aber beide Seiten, die zärtliche wie die brutale, scheinen gleichwertige Facetten zu sein.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dank Finckh und Singer hätte "Ohne jede Spur" womöglich auch als betont düster gefilmtes reines Kammerspiel funktioniert. Andererseits sorgt die aufwändig rekonstruierte nächtliche Suche für zusätzliche Spannung: Als seine Frau nicht von ihrer Radtour heimkehrt, macht sich Martin Birli (Stefan Gorski) große Sorgen. Die beiden haben ein Baby, Nathalie stillt noch, aber der Leiter (Robert Stadlober) des dörflichen Polizeipostens in der Nähe von Graz wiegelt ab: Bestimmt braucht sie bloß mal eine Auszeit. Als Martin die Nachbarschaft um Hilfe bittet, finden sich dank eines Aufrufs im Internet alsbald an die zweihundert Personen ein, um sich an der Suchaktion zu beteiligen.
Eine Polizistin (Claudia Kottal) schließt sich ebenfalls an. Bei der Durchsicht der Polizeimeldungen erkennt der Chef, das von "Auszeit" keine Rede sein kann: Zwei Tage zuvor hat ein Autofahrer in derselben Gegend versucht, eine Radfahrerin von der Straße zu drängen. Nun nehmen auch Spürhunde und ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera an der Suche teil.
Auf dieser Ebene wirken in kleinen Rollen Aglaia Szyszkowitz und Benjamin Sadler als Martins Eltern mit, auch hier gibt es zwischen Hoffen und Bangen ein Wechselbad der Gefühle. Die Hausszenen sind dennoch von deutlich größerer Intensität, zumal Esther Rauch (Regie) und Mario Minichmayr (Bildgestaltung) akribisch darauf geachtet haben, die Handlung ausschließlich aus Nathalies Blickwinkels zu erzählen. Es war allen Beteiligten ein sichtbares Anliegen, die Ereignisse im Haus nicht einen Moment lang voyeuristisch wirken zu lassen.
Einmal zwingt der Entführer Nathalie, sich auszuziehen. Anstatt nun die Perspektive zu wechseln, bleibt die Kamera bei ihr. Als sie später versehentlich einige Pflanzen aus seiner Orchideenzucht beschädigt, rastet er aus. Auch hier hält sich Rauch an ihre Linie, indem sie abblendet; die Gewalt bleibt ausgespart.
Zu dieser Haltung passt nicht zuletzt der Verzicht auf typische Thriller-Elemente. "Ohne jede Spur" ist fesselnd, zumal natürlich über allem die Frage schwebt, ob und wie Nathalie das Verbrechen übersteht, aber die Musik ist vergleichsweise zurückhaltend. Stattdessen zeigt der Film, wie sie versucht, eine Beziehung zu ihrem Entführer herzustellen; er soll sie nicht als Frau, sondern als Freundin sehen. Tatsächlich kommt es zu Momenten der Nähe, einmal bricht der Mann gar in Tränen aus. Im Grunde ist er eine tragische Figur. Seine Bedrohlichkeit überwiegt dennoch eindeutig. Natürlich ist Nathalie dem körperlich überlegenen Mann ausgeliefert, trotzdem stellt sie der Film als starke Frau dar; Rauch wollte um jeden Preis vermeiden, sie als Opfer zu inszenieren. Mitgefühl mit dem "Monster" wollte sie hingegen offenkundig nicht wecken. Im Anschluss zeigt die ARD eine Dokumentation zum Thema.