TV-Tipp: "Tatort: Pyramide"

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14. Januar, ARD, 20:15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Pyramide"
Das System ist perfide und funktioniert ganz einfach. Da es die Aussicht auf raschen Reichtum verspricht, finden sich auch immer wieder Menschen, die bereit sind, ihre Seele zu verkaufen. André Stamm zum Beispiel, angehender Familienvater, würde seiner Frau gern eine größere Wohnung bieten. Als ihm ein früherer Bundeswehrkamerad vorschlägt, Kollege beim Strukturvertrieb "Concreta" zu werden, und André gleich beim ersten telefonischen Verkaufsgespräch einen Abschluss erzielt, lässt er angesichts der satten Provision alle Bedenken fahren; selbst wenn er einen Teil dem Chef abgeben muss.

Aber die "kalte Akquise" ist ein mühsames Geschäft. Verwandte und Freunde zu überreden, ihr Erspartes in windige Kapitalanlagen zu investieren, ist viel einfacher, erst recht, wenn man eine fabelhafte Rendite verspricht. Irgendwann ist dieser Personenkreis jedoch abgegrast, und nun kommt der Schneeball ins Rollen. André wirbt Menschen an, die ähnlich wie er große Träume haben: Sie erledigen den gleichen Job, doch nun kassiert er einen Anteil ihrer Umsätze; bis die Kurse abstürzen und die Blase platzt. Profit machen bei einer Vertriebspyramide am Ende nur die Personen an der Spitze.

Rouven Israel ist eine ausgezeichnete Besetzung für den braven André. Auf die Idee, dass das Geschäftsmodell nicht sauber sein könnte, kommt der junge Mann gar nicht erst, zumal er auch eigenes Geld in die riskanten Wertpapiere investiert hat. ARD und ZDF haben Geschichten dieser Art schon öfter erzählt, alle liefen auf die Erkenntnis "Gier frisst Hirn" hinaus, wahlweise auch "Gier frisst Herz", wie 2018 der Titelzusatz von Raymond Leys Dokudrama "Lehman" über die Folgen der Bankenpleite für die Kleinanleger lautete. In den meisten dieser Filme waren die Hauptfiguren wie in diesem "Tatort" die verführten Verführer. Die Frage ist bloß: Wie wird aus diesem Stoff ein Krimi?

Das erfahrene Autorenduo Arne Scharf und Martin Nolting, mehrfach ausgezeichnet für die Vox-Serie "Club der roten Bänder" (2015) und Schöpfer vieler sehenswerter Reihenkrimis, setzt gleich mit den ersten Bildern einer entführten Frau einen entsprechenden Akzent. Dann beginnt André zu erzählen, was ihm widerfahren ist. Die nun folgenden episodischen Rückblenden sind auch durch die Kapitelüberschriften ("Verführung", "Versuchung", "Habgier" etc.) so geschickt konzipiert, dass nicht zuletzt dank der elektronischen Thrillermusik (Philipp Thimm) eine unmittelbare Spannung entsteht, die der Film durchgehend halten wird. 

Interessant ist zudem das Lichtkonzept (Bildgestaltung: Mathias Prause). Die verschiedenen Schauplätze sind von jeweils unterschiedlicher Atmosphäre geprägt: Die Kanzlei eines Anwalts für Verbraucherschutz erscheint in freundlichen hellen Brauntönen, die Räume der "Concreta" wirken kühl, die Befragungsszenen mit André sind düster. Regisseurin Charlotte Rolfes hat bislang überwiegend Serienepisoden gedreht, aber zuletzt mit "Wer wir sind" (2023) gezeigt, wozu sie in der Lage ist.

In der ARD-Serie mit Lea Drinda geht es um eine jugendliche Öko-Gruppe, die sich angesichts der Tatenlosigkeit ihrer Elterngeneration radikalisiert. André macht eine ähnliche Entwicklung durch, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Zunächst schlägt die Handlung jedoch einen gänzlich unerwarteten Haken: Ausgerechnet Rocko (Oleg Tikhomirov), der Überflieger, der André angeworben hat, bedroht den "Concreta"-Chef Christopher Komann (Robin Sondermann) aus heiterem Himmel mit einer Pistole und will ihn zwingen, öffentlich zuzugeben, dass das Geschäftsmodell ein einziger großer Schwindel ist. 

Tikhomirov ist mit seiner kantigen Attraktivität eine ähnlich gute Wahl wie Israel, er verkörpert den Blender ebenso glaubwürdig wie die zunehmende Verzweiflung eines Ehemanns, der um das Leben seiner entführten Gattin (Sophie Pfennigstorf) kämpft. Die Suche nach der Frau ist so clever erzählt, dass ein Mord fast zur Nebensache wird: Der Anwalt ist erschlagen worden, er hatte eine Sammelklage gegen das Unternehmen initiiert; und natürlich gehört Komann zu den Hauptverdächtigen.

Sondermanns Rolle weckt fast zwangsläufig Assoziationen zu Wall-Street-Kinogrößen wie Gordon Gecko und Jordan Belfort, aber der Schauspieler ist eher Mark Zuckerberg als Michael Douglas oder Leonardo DiCaprio. Wenn Komanns Leute während einer einpeitschend gemeinten Ansprache in frenetischen Jubel ausbrechen, mutet das prompt völlig übertrieben an. Überzeugender sind die Szenen, in denen Sondermann seine Wirkung mit Zwischentönen erzielt und Komann das Ermittlerduo (Klaus J. Behrendt, Dietmar Bär) kühl an seiner Teflonschicht abtropfen lässt.