TV-Tipp: "Tatort: Avatar"

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7. Januar, ARD, 20:15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Avatar"
Die seltsame Eigenart der Deutschen, Fachbegriffe aus dem amerikanischen Englisch in die Alltagssprache zu übernehmen, hat unter anderem zur Folge, dass Manches ungleich harmloser klingt, als es tatsächlich ist. Unter "Cyber-Grooming" zum Beispiel können sich vermutlich viele Menschen nichts vorstellen, zumal die Herleitung des Ausdrucks ohnehin nicht auf ein Verbrechen schließen lässt: "Groom" heißt Bräutigam, "Cyber-Grooming" könnte also durchaus die Bezeichnung für eine Partnersuche per Online-Kontaktbörse sein.

Tatsächlich verbirgt sich dahinter eine Abscheulichkeit, die mit "sexueller Belästigung im Internet" ebenfalls nur unzureichend umschrieben ist: Ältere Männer geben sich in digitalen Netzwerken als Jugendliche aus und suchen den Kontakt zu Minderjährigen. Ähnlich wie bei der analogen "Loverboy"-Methode – auch so ein Euphemismus – bauen sie Vertrauen auf und überreden ihre Bekanntschaften, ihnen sexuelle Fotos zu schicken. Im schlimmsten Fall kommt es schließlich zu einem persönlichen Treffen mit Missbrauch und Vergewaltigung; und darum geht es letztlich in "Avatar", einem "Tatort" aus Ludwigshafen.

Die Krimihandlung beginnt mit dem üblichen Leichenfund, aber der ältere Mann ist kein Mordopfer, sondern einem womöglich durch eine erhebliche Stresssituation verursachten Herzinfarkt erlegen. Die indirekte Täterin ist dank einer Überwachungskamera rasch gefunden: Julia da Borg (Bernadette Heerwagen) muss beim Joggen quasi über die Leiche gestolpert sein. Kurz drauf besteht zumindest fürs Publikum ohnehin kein Zweifel mehr, als die Programmiererin ganz in der Nähe ein weiteres Rendezvous hat.

Es kommt zum Zweikampf, der damit endet, dass sie den Mann, einen Schreiner, mit dessen eigenem Werkzeug ersticht. Zwischendurch zeigt der Film die Frau immer wieder beim Videozwiegespräch mit einem Mädchen. Auch ohne den Titel wäre recht bald klar, dass es sich bei Sina um ein digitales Wesen handelt: Julia kommuniziert mit einem Avatar, einem digitalen Doppelgänger, den sie der vor einigen Monaten ums Leben gekommenen Tochter ihres früheren Lebensgefährten nachempfunden hat. Nach und nach stellt sich raus, dass sie sich die Schuld am Tod des Mädchens gibt.

Vor zwanzig Jahren haben Miguel Alexandre (Regie), Harald Göckeritz (Buch) und Bernadette Heerwagen gemeinsam das Liebesdrama "Grüße aus Kaschmir" gedreht; dafür sind die drei 2005 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden. Ein paar Jahre zuvor war "Nana" das gemeinsame Debüt von Regisseur und Hauptdarstellerin. Natürlich ist "Avatar" ein Krimi, schließlich müssen Lena Odenthal und Johanna Stern (Ulrike Folkerts, Lisa Bitter) zwei Todesfälle aufklären. In erster Linie ist der Film jedoch ein Drama, in das noch weitere Jugendliche verwickelt sind.

Sinas beste Freundin Marie (Leni Deschner) macht sich ebenfalls Vorwürfe, und das nicht nur, weil sie ihr den Freund (Caspar Hoffmann) ausgespannt hat. Und dann ist da noch Bastian (Luis Vorbach), mit dem Sina offenbar Kontakt übers Internet hatte, ein zorniger junger Mann, der ganz erhebliche Probleme mit dem neuen Freund seiner Mutter hat. 

Die drei jungen Mitwirkenden sind ausgezeichnet geführt und hinterlassen einen bleibenden Eindruck, doch die zentrale Figur der Handlung, die an das gleichfalls Grimme-preisgekrönte Drama "Das weiße Kaninchen" (2016) erinnert, ist Julia. Bernadette Heerwagen ist eine ausgezeichnete Wahl für diese facettenreichen Rolle, deren emotionales Spektrum Trauer, Verzweiflung, Wut und das Bedürfnis nach Rache umfasst. Die Vergeltung mag die Falschen getroffen haben; aber keine Unschuldigen.

Alexandre hat auch diesmal wie schon seit einigen Jahren wieder die nicht nur handwerklich sorgfältige Bildgestaltung übernommen. Die Einstellungen (Ko-Kamera: Conny Janssen) offenbaren oft erst auf den zweiten Blick, wie durchdacht sie sind. Mehrfach zeigt der für seinen Udo-Jürgens-Zweiteiler "Der Mann mit dem Fagott" 2012 mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnete Regisseur ein Graffito: "Jungs sind wie Engel. Cool, sexy und schön". Der Zusatz ist so etwas wie die Botschaft des Films: "Aber wer glaubt schon an Engel?".

Die zweite richtet sich an Eltern: Kein Meeting kann wichtiger als die Sorgen und Ängste eurer Kinder. Der Film endet erst tragisch und dann mit einem melancholischen Abschiedsepilog: Mit Peter Espeloer (als mitunter brillanter Kriminaltechniker Becker) und der einst als "Vorzimmerdame" gestarteten Annalena Schmidt verlassen zwei bewährte Kräfte den "Tatort" aus Ludwigshafen; beide haben Ulrike Folkerts 25 Jahre lang begleitet.