TV-Tipp: "Kommissarin Lucas: Helden wie wir"

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7. Oktober, ZDF, 20:15 Uhr
TV-Tipp: "Kommissarin Lucas: Helden wie wir"
Im September 2009 mischte sich der sechzigjährige Unternehmer Dominik Brunner ein, als Jugendliche in einem Münchener S-Bahnhof von zwei jungen Männern bedroht wurden. Es kam zu einer Schlägerei, in deren Verlauf Brunner stürzte. Die Täter schlugen und traten weiter auf ihn ein; im Krankenhaus starb er schließlich.

Bei der Aufarbeitung des Vorfalls zeigte sich, dass die Umstände nicht so klar waren, wie sie zunächst schienen; trotzdem wird Brunner bis heute als Held verehrt. Thomas Berger hat die Ereignisse in seiner elften Regiearbeit für "Kommissarin Lucas" aufgegriffen. Sein Drehbuch ist eine geschickte Variation des Verbrechens, aber dass "Helden wie wir" eine der wohl besten Episoden der ZDF-Krimireihe geworden ist, hat andere Gründe.

Einer davon ist die persönliche Betroffenheit der Titelfigur: Ellen Lucas (Ulrike Kriener) ist Zeugin der Schlägerei auf dem Bahnsteig geworden, aber ebenso tatenlos geblieben wie all’ die anderen. Sie kann sich ihr Verhalten selbst nicht erklären; ihre Scham ist so groß, dass sie dem Kollegen Fitz (Sebastian Schwarz) verschweigt, am Tatort gewesen zu sein. 

Die eigentliche Faszination des Stoffs resultiert jedoch ähnlich wie beim Tod Brunners aus der Erkenntnis, dass der Fall etwas anders abgelaufen ist, als es die Zeugenaussagen und die Aufnahmen einer Überwachungskamera nahelegen. Lucas hat eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen einer Frau und zwei Männern wahrgenommen. Die schockierenden Bilder enden mit einem Tritt ins Gesicht der Frau, als sie auf dem Boden liegt.

Durch Befragungen erfahren Lucas, Fitz und die neue junge Kollegin Wolf (Milena Straube), was vorher passiert ist: In der U-Bahn hat einer der beiden Männer, Jan Böhm (Rouven Israel), eine junge Frau angequatscht. Es kam zu einem Wortwechsel, in dessen Verlauf Böhm derart beleidigend geworden ist, dass sich Karin Hofer (Franziska Schlattner) eingemischt hat. An der nächsten Haltestelle sind Böhm, sein Freund Florian (Constantin von Jascheroff) und Karin Hofer ausgestiegen. Auf dem Bahnsteig hat sich die Auseinandersetzung offenbar fortgesetzt; am Ende ist die Frau tot. 

Natürlich behandelt Berger, der die Reihe vor zwanzig Jahren gemeinsam mit der Autorin Barbara Jago geschaffen hat, unter anderem die Frage der Zivilcourage. Wie Brunner, so wird auch Karin Hofer von der Öffentlichkeit für ihr Engagement gefeiert. Die Medien prangern die Umstehenden an: "Die Schande von Nürnberg – Keiner hat ihr geholfen". Im Gespräch mit Viviane (Alberta von Poelnitz), der Tochter des Opfers, versucht Lucas diese Passivität zu erklären, die auch ihre eigene war: Die Leute hätten sich von den Ereignissen überrollt gefühlt, sie hätten gar nicht begriffen, was da passiert. Die Tochter, ungefähr achtzehn, kontert kühl: "Zwei Männer schlagen eine Frau tot. Was ist daran schwer zu verstehen?" "Nichts", muss die Kommissarin, die sonst doch alles im Griff hat und selbst nicht kapiert, warum sie wie paralysiert war, kleinlaut einräumen. 

Es ist nicht zuletzt die subjektive Perspektive, die diesen Film mit dem sarkastischen Titel "Helden wie wir" im Rahmen der Reihe so besonders macht. Eine weitere von vielen ausgezeichneten Ideen Bergers war die Einführung einer zweiten neuen Figur: Stefan Kurt spielt einen Polizeipsychologen, den Lucas mehrfach um Beistand bittet. In den Gesprächen wird eine gewisse Amtsmüdigkeit der Kommissarin deutlich. Die gegenseitigen Gefühle lassen sich immer weniger verleugnen; das ist ebenso formidabel geschrieben wie gespielt. Noch mehr Respekt gebührt Berger jedoch für das Kunststück, dem eigenen Drehbuch trotz der großen Dialogdichte eine derart hohe Intensität abzugewinnen.

Das hat auch mit der vorzüglichen Kameraarbeit (Frank Küpper) zu tun, aber mindestens genauso bedeutsam ist das an die "Spreewaldkrimis" erinnernde Montagekonzept. Weil die Rückblenden stets nur einen Teil des Gesamtbilds zeigen, ergeben sich immer wieder neue verblüffende Erkenntnisse. Berger ist zwar nicht als erster auf die Idee gekommen, Gegenwart und Vergangenheit zu durchmischen, indem er Lucas zum Beispiel hinter den beiden Männern durch den Waggon gehen lässt, während einer der beiden seine Aussage macht, aber selbstredend ist der Effekt verblüffend, wenn sie sich schließlich selbst in der Bahn sitzen sieht. Beiläufig verdeutlicht der Film zudem, wie sehr Wohl und Wehe eine Frage des Zufalls sind: Hätte Karin Hofer ihr nicht den Platz überlassen, wäre es nicht zu der tödlichen Eskalation gekommen. Die Rekonstruktion des Tathergangs sorgt für ein angemessenes Finale mit weiteren Überraschungen.