TV-Tipp: "Nach uns der Rest der Welt"

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4.Oktober, ARD, 20:15 Uhr
TV-Tipp: "Nach uns der Rest der Welt"
Komödie ist Tragödie plus Zeit: weil ein Tiefschlag mit etwas Abstand unerwartet heitere Seiten offenbaren kann. Auf die schmerzlich-schöne Liebesgeschichte "Nach uns der Rest der Welt" übertragen, könnte die Erkenntnis lauten: Romanze ist Drama ohne Zeit.

Die Beziehung der beiden jungen Hauptfiguren hat eine allenfalls überschaubare Zukunft, denn der sechzehnjährige Jonas leidet unter Muskeldystrophie. Die Krankheit beginnt im Kindesalter; die Muskelschwäche erfasst erst die Beine und dann nach und nach auch den Oberkörper. Jonas ist zwar auf den Rollstuhl angewiesen, konnte seinen Rumpf aber bis vor Kurzem noch uneingeschränkt nutzen; nun bereitet ihm sein rechter Arm erste Probleme. Statistisch liegt seine Lebenserwartung bei Ende zwanzig. Kann das Stoff für eine romantische Komödie sein? 

Tatsächlich verfolgen erstaunlich viele Filme über Menschen im Rollstuhl einen tragikomischen Ansatz. Die überwiegend männlichen Betroffenen sind zwar meist querschnittsgelähmt und nicht dem Tode geweiht, doch der finstere Humor ist von ähnlicher Natur wie in diesem Film: Auch Jonas ist ein verbitterter Zyniker; bis er Emily trifft. In Rollstuhlfahrergeschichten geht es fast immer um Freundschaft, weshalb der moderne französische Klassiker "Ziemlich beste Freunde" (2011) tatsächlich als Prototyp dieses Subgenres gelten kann.

"Nach uns der Rest der Welt" ist jedoch ein Liebesdrama, selbst wenn darauf zunächst nur wenig hindeutet: Der rebellische Jonas (Julius Gause) ist bereits von mehreren Schulen geflogen. Eine Stuttgarter Realschule ist seine letzte Chance, die er allein der Hartnäckigkeit seiner Mutter Alma (Anneke Kim Sarnau) zu verdanken hat; nächste Station wäre die Jugendpsychiatrie.

Mit einem sarkastischen ersten Auftritt in der Inklusionsklasse lässt er keinen Zweifel daran, dass er nicht vorhat, eine andere Rolle als die des aggressiven Außenseiters einzunehmen. Seine erste Begegnung mit Mitschülerin Emily (Lina Hüesker) ereignet sich allerdings in einem Neuromuskulären Zentrum: Ihre Mutter (Sophie von Kessel) ist Spezialistin für seine Krankheit. 

Franziska Buch hat im Laufe ihrer Karriere immer wieder heitere Filme über Kinder und Jugendliche gedreht ("Emil und die Detektive", "Hier kommt Lola!", "Conni & Co") und jedes Mal bewiesen, wie gut sie junge Mitwirkende zu führen weiß. Eine ihrer besten Arbeiten war jedoch ein Drama: "Die Drachen besiegen" (2009) erzählt von einem tiefgläubigen Elternpaar, das mit einem künstlich gezeugten Baby das Leben seiner an Leukämie erkrankten Tochter retten will; Anneke Kim Sarnau spielte damals die Ärztin des Mädchens.

Buchs Filme sind ohnehin von starken Frauen geprägt; ihre letzte Arbeit, das historische Drama "Das Wunder von Kapstadt" (2022), war eine Hommage an medizinische Heldinnen, die von der Geschichtsschreibung vergessen wurden. Zuvor hat sie unter anderem "Die Diva, Thailand und wir!" (2017) gedreht, eine bitterböse Komödie mit Hannelore Elsner als Egomanin, die von ihrer Tochter (Sarnau) beim Thailandurlaub in einem Pflegeheim entsorgt werden soll.

"Nach uns der Rest der Welt" ist in gewisser Weise eine Kombination der verschiedenen erzählerischen Ansätze. Schon das erste Aufeinandertreffen des späteren Liebespaars, als Emily gegen Jonas prallt und er sich seinen eigenen Urin über die Hose schüttet, ist Comedy pur. Wie aus der anfänglichen gegenseitigen Abneigung langsam Liebe wird, ist von Julius Gause und Lina Hüesker ganz famos gespielt, zumal Emily hinter der Fassade der attraktiven, sportlichen jungen Frau eine erhebliche seelische Verletztheit verbirgt.

Genauso wichtig wie die beiden jungen Rollen sind die Mütter. Sarnau hat dabei das größere Spektrum: Alma gibt sich die Schuld am Schicksal des Jungen, weil die genetische Störung von Müttern auf Söhne vererbt wird. Sie kämpft wie eine Löwin für Julius, kommt der mentalen Erschöpfung dabei aber gefährlich nahe, zumal sie gleich zwei Jobs hat, da die Krankenkasse nur einen Bruchteil der Ausgaben für Jonas übernimmt.

Für Lichtblicke sorgen die Flirts mit Jonas’ Klassenlehrer, den Florian Stetter nach zuletzt einigen abgründigen Figuren durch und durch sympathisch verkörpern darf. Emilys Mutter wiederum ist fachlich über jeden Zweifel erhaben, greift jedoch zu fragwürdigen Mitteln, um die Beziehung zwischen den Teenagern zu verhindern: Sie fürchtet, dass die Romanze ihre Pläne, Emily auf eine internationale Schule nach Paris oder London zu schicken, durchkreuzen könnte.  

Mitunter streift der Film die Grenze zum Kitsch, als das Liebespaar die Titelrollen in einer Hiphop-Version von "Romeo und Julia" übernimmt oder Emily gegen Ende dafür sorgt, dass sich für Jonas ein langgehegter Traum erfüllt, aber Buch kriegt jedes Mal rechtzeitig die Kurve, zumal ausgerechnet dieser Glücksmoment beinahe zur Tragödie wird. Die sensible Umsetzung ihres facettenreichen Drehbuchs zeigt sich nicht zuletzt in einer sehr respektvoll gefilmten erotischen Szene, mit der sich die Regisseurin gewissermaßen in unerforschtes Gelände begibt: Liebe spielt in Filmen über Menschen mit Behinderung nur selten eine Rolle, Sex jedoch erst recht nicht. Als Intimitätskoordinatorin fungierte Katja Weitzenböck, die dank ihrer großen Erfahrung als Schauspielerin beste Voraussetzungen für diese Funktion mitbringt.