TV-Tipp: "Tatort: Erbarmen, zu spät"

© Getty Images/iStockphoto/vicnt
10. September, ARD, 20:15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Erbarmen, zu spät"
Der Titel legt eine Komödie nahe, zumindest für ältere Ohren: 1984 hatte die hessische Band Rodgau Monotones aus der Nähe von Offenbach einen heiteren Hit mit dem Refrain "Erbarmen – zu spät – die Hesse komme!". Der beinahe gleichnamige Krimi ist jedoch alles andere als komisch.

Die Handlung trägt sich in einer einzigen Nacht zu: Hauptkommissar Brix (Wolfram Koch) aus Frankfurt sucht irgendwo in der Wetterau eine Leiche. Ein offenbar unter Schock stehender Mann will gesehen haben, wie Streifenpolizist Simon Laby erst ermordet und dann an einem Waldrand verscharrt worden ist. Nun führt der Zeuge Brix und einige Kollegen von einem angeblichen Tatort zum nächsten. Es ist dunkel, Felder und Wälder sehen überall gleich aus; die Suche führt zu nichts. 

Trotzdem bleibt Brix an der Sache dran. Sie spitzt sich zu, als das einsam gelegene Waldhaus der Familie Laby durchsucht wird. Hier hat sich der verschwundene Beamte regelmäßig mit Gleichgesinnten zum Grillen getroffen. Die Polizisten entdecken neben Vorräten auch eine erschreckende Menge an Waffen und Munition aus Bundeswehr- und Polizeibeständen, dazu Schriften, die den Nationalsozialismus verherrlichen; anscheinend haben sich Rechtsextremisten hier für den sogenannten Tag X gerüstet, an dem die Regierung gestürzt und das Land übernommen werden soll.

Mit Hilfe von Kollegin Janneke (Margarita Broich) kommt Brix einer neofaschistischen Gruppe innerhalb der hessischen Polizei auf die Spur. Die Spinne im Zentrum dieses Netzwerks scheint ausgerechnet ein guter früherer Freund (Godehard Giese) zu sein; die beiden Männer waren einst Partner bei der Frankfurter Sittenpolizei. 

Der Hessische Rundfunk ist bekannt für seine ungewöhnlichen Geschichten. Auch "Erbarmen. Zu spät." fällt aus dem üblichen Rahmen, und das keineswegs nur, weil es zunächst gar keine Leiche gibt. Typische Krimispannung kommt allerdings nur selten auf; es gibt weder Verfolgungsjagden noch Schießereien. Oft passiert auch überhaupt nichts, weil die begleitenden Kollegen (Uwe Rohde und Karsten Antonio Mielke) den anderen dabei zuschauen, wie sie wieder mal vergeblich den Schauplatz eines vermeintlichen Verbrechens absuchen; und wenn doch mal was passiert, dann gern außerhalb des Bildes. Zwischendurch gibt es auch typische Geplänkel jener Art, mit denen sich wartende Menschen die Zeit vertreiben; die Anekdoten, die sich die Polizisten erzählen, sind stellenweise recht bizarr. Zu allem Überfluss ist es oft zappenduster, weil es auf Feld- und Waldwegen nun mal keine Straßenlaternen gibt. 

Trotzdem ist Bastian Günther (Buch und Regie) mit seinem zweiten HR-"Tatort" ein erstaunlich fesselnder Film gelungen, der ohne größeren Aufwand auskommt; selbst die Musik hält sich konsequent im Hintergrund. Die Geschichte, die sich nach und nach herausschält, ist dennoch ziemlich spannend: Es geht unter anderem um die ab August 2018 per Fax oder Mail verschickten und mit "NSU 2.0" gezeichneten Morddrohungen; sie waren an Menschen und Einrichtungen adressiert, die sich öffentlich gegen Rassismus und Antisemitismus engagieren. Mitglieder der hessischen Polizei waren in die Aktion verwickelt.

Günthers erster Sonntagskrimi war vor einigen Jahren "Wer bin ich?" (2015), ein allerdings nicht rund um gelungener intellektueller Spaß, in dem der echte Ulrich Tukur, Darsteller des Wiesbadener "Tatort"-Kommissars Felix Murot, unter Mordverdacht gerät. Die nicht ganz ernst gemeinte Handlung wirkte, als habe Alfred Hitchcock eine Geschichte von Franz Kafka verfilmen wollen; die Umsetzung hatte jedoch Schwächen.

"Erbarmen. Zu spät" ist dagegen ein Krimi wie aus einem Guss, zumal die Inszenierung ihrer Linie bis zum bitteren Ende treu bleibt. Anders als in vielen sonstigen Sonntagsfilmen sind Hinweise auf etwaige Verdächtige auch nicht auf Anhieb als Ablenkungsmanöver zu durchschauen. Die Sorgfalt von Günthers Arbeit zeigt sich ohnehin nicht zuletzt im Detail: Jede Fährte, die das Drehbuch zu Beginn legt, wird irgendwann wieder aufgegriffen; eine Armbanduhr spielt dabei eine besondere Rolle.

Reizvoll sind auch die mutwilligen Verstöße gegen ungeschriebene Regeln: Mal ist ein Wald bedrohlich rot illuminiert, mal wird ein Wagen von oben wie durch einen himmlischen Strahl beleuchtet. Am Ende wird es dann in der Tat biblisch: Sämtliche Beteiligten müssen scheinbar blutbesudelt und entsprechend fassungslos Zuflucht in ihren Autos suchen, als habe Gott ein Zeichen setzen wollen. Zum Ausgang der Geschichte passt dieses Menetekel jedenfalls.