Soll der Handel verpflichtet werden, alte Lebensmittel zu spenden?

Container mit weggeworfenem Obst, Gemüse und Brot
Getty Images/iStockphoto/Roman Mykhalchuk (M)
Der Einzelhandel allein wirft etwa eine Million Tonnen Nahrungsmittel pro Jahr weg. Ethik-Kolumnist Alexander Maßmann fragt, ob eine Verpflichtung zur Lebesmittelspende sinnvoll ist.
Lebensmittel im Müll
Soll der Handel verpflichtet werden, alte Lebensmittel zu spenden?
In Deutschland enden sehr viele gute Lebensmittel im Müll, obwohl viele Menschen nicht genug haben. Soll man Händler verpflichten, alte Lebensmittel zu spenden anstatt sie wegzuwerfen? Alexander Maßmann, unser Ethik-Experte von der Universität Cambridge, beleuchtet das Thema von verschiedenen Seiten.

Die gegenwärtige Debatte um das "Containern" lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Lebensmittelverschwendung. In Deutschland werden sehr viele Nahrungsmittel weggeworfen: Über 11 Millionen Tonnen Lebensmittel – vielleicht gar bis zu 18,5 Millionen – werfen wir jedes Jahr insgesamt in den Müll. In Privathaushalten allein sind das pro Bürgerin und Bürger 80 Kilogramm jährlich. Im Groß- und Einzelhandel wird zusätzlich etwa ein Drittel dessen weggeworfen. 

Auf den Müllhalden setzen die verrottenden Nahrungsmittel dann große Mengen an Treibhausgasen frei. Die Vermeidung der Verschwendung ist deshalb die Maßnahme, mit der jeder einzelne das Klima am wirksamsten schützen kann. Zugleich sind zwei Millionen Menschen in Deutschland auf die Spenden der "Tafeln" angewiesen.

Im Vergleich zu den Privathaushalten ist im Handel eine kleine Anzahl von Menschen für die Verschwendung verantwortlich. In Frankreich und Italien dagegen sind größere Supermärkte verpflichtet, überschüssige Lebensmittel zu spenden, anstatt sie wegzuwerfen. Wäre das auch in Deutschland eine sinnvolle Regelung?

Gottes gute Schöpfungsgaben im Abendmahl

Aus christlicher Sicht sind unsere Lebensmittel – Obst und Gemüse, Fleisch, Milch und andere Produkte – Gottes gute Schöpfungsgaben. Das schließt nicht nur die Fruchtbarkeit der Böden und das Wachsen der Pflanzen ein, sondern auch viel menschliche Zusammenarbeit bei Anbau, Ernte und Weiterverarbeitung. Der besondere Wert dieser Schöpfungsgaben wird etwa im Abendmahl deutlich. Die Gemeinde versammelt sich um die elementaren Lebensmittel von Brot und Wein, und in der Gegenwart Jesu Christi werden sie zum Vorgeschmack auf sein Reich. Wir sollten Gottes Schöpfungsgaben nicht geringschätzen.

Verschwendung durch den Handel

Was ist also zu tun, damit kostbare Lebensmittel nicht mehr in solchen Massen weggeworfen werden? Den eigenen Einkauf besser zu planen, hilft natürlich auf der individuellen Ebene. Wer Tipps zur Müllvermeidung sucht, wird etwa auf einer Website  des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft fündig. 

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Sollen Supermärkte verpflichtet werden, gute Lebensmittel zu spenden anstatt sie wegzuwerfen?

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Darüber hinaus fragt sich aber, ob man nicht auch noch an einem anderen Punkt ansetzen sollte. Groß- und Einzelhändler haben einen langen Hebel, weil hier eine relativ kleine Anzahl von Personen für einen bedeutenden Teil der Verschwendung verantwortlich ist. Der Einzelhandel allein wirft etwa eine Million Tonnen Nahrungsmittel pro Jahr weg.

Containern

Wenn gute Lebensmittel in der Mülltonne des Supermarkts landen, fischen manche Menschen sie hier und da wieder heraus. Erlaubt ist solches "Containern" nicht: Der Müll ist bleibt Eigentum des Supermarkts. Die Lebensmittelbranche will nicht belangt werden, sollte sich jemand den Magen verderben. Doch nun werben der Justizminister und der Landwirtschaftsminister dafür, beim Containern weitgehend auf eine Strafvollstreckung zu verzichten. 

Selbst wenn der Vorstoß der Bundesminister Erfolg hat, bleibt beim Containern eine rechtliche und gesundheitliche Unsicherheit. Dennoch ist die Initiative sinnvoll. Wer containert, konfrontiert die Gesellschaft mit dem Verschwendungsproblem und mit dem Skandal, dass viele Menschen in Deutschland nicht genügend Geld für gute Ernährung haben. Zu einer klaren Reduzierung der Essensverschwendung wird jedoch das Containern nicht beitragen. Um dieses Problem praktisch anzugehen, braucht es andere Maßnahmen.

Anreize zur Verschwendung?

Sollte man die Händler also – wie in Frankreich, Italien und Tschechien – gesetzlich verpflichten, Ware zu spenden anstatt sie wegzuwerfen? Eine Spendepflicht für den Handel führt vermutlich nicht zum Ziel. In Frankreich können Händler die gespendete Ware zu 60 Prozent des Einkaufspreises steuerlich absetzen, ähnlich wie in Italien. Doch damit hilft der Staat sogar hier und dort, das Überangebot im Laden aufrechtzuerhalten. Es fragt sich, ob eine bessere Lösung politisch überhaupt durchsetzbar ist. 

Eine Spendepflicht würde die Probleme, die überhaupt erst zum Überschuss in den Märkten führen, nicht angehen. Geschäfte werfen gute Produkte weg, weil Kund:innen anscheinend eine stets reichhaltige Präsentation wünschen und hohe Erwartungen an Frische und Optik haben. Entsprechend bedient der Agrarsektor eine übertrieben hohe Nachfrage der Märkte. Auch bei Produktion und Zubereitung gehen wieder über eine Million Tonnen an Lebensmitteln verloren, teils noch gefördert durch Agrarsubventionen.

Bürokratie

Außerdem bedeutet eine Spendepflicht einen großen logistischen Aufwand. Märkte müssen die Spenden organisieren und dokumentieren. Das müssen Behörden wieder kontrollieren, und die Verhängung von Bußgeldern bedeutet ebenfalls Bürokratie. Die Hoffnung, große gesellschaftliche Probleme durch eine rechtliche Umstellung zu lösen, scheint zu einfach.

Zwar haben die bekannten Tafeln verschiedentlich nicht genug Lebensmittel für alle Bedürftigen. Doch es ist zu hoffen, dass der große Anstieg des Bedarfs im letzten Jahr zumindest teilweise zurückgeht. Außerdem kann der Handel seine Spenden bereits steuerlich absetzen und wirft immer noch Unmengen weg – allein im Einzelhandel ein Vierfaches dessen, was die Tafeln bereits verwerten. Angesichts neuer Regelungen beim Containern und dem wachsenden gesellschaftlichen Interesse sollten Händler ihren Spendenanteil erhöhen, auch ohne Spendepflicht.

Geringschätzung des Essens im Privathaushalt

In den Privathaushalten wird unterdessen deutlich mehr weggeworfen – in Deutschland etwa das Dreifache dessen, was Franzosen noch vor der Spendepflicht der Händler wegwarfen. Während man Lebensmittel im Heimatland der "haute cuisine" kulturell wertschätzt, ist Deutschland dafür bekannt, dass man Lebensmittel für möglichst wenig Geld einkaufen möchte. Doch Sparsamkeit führt nicht zur Müllvermeidung. Im Gegenteil: Man schätzt den ideellen Wert der Lebensmittel gering und geht noch weniger achtsam mit ihnen um. Anders als in Frankreich führt in Deutschland noch ein spezifischer kultureller Faktor dazu, dass besonders viele gute Lebensmittel im Müll enden. 

Ausblick

Dass wir Deutschen außerordentlich große Mengen an guten Lebensmitteln in den Müll werfen, ist ein Skandal. Wir schätzen Nahrungsmittel gering. Um das Problem der Essensverschwendung anzugehen, muss man an mehreren Stellen ansetzen. Privatleute müssten bewusster mit dem Essen umgehen. Hier wären neue Bildungsinitiativen sinnvoll. Außerdem muss die Politik das Problem der Überproduktion im Agrarbereich angehen. Der Groß- und Einzelhandel wiederum sitzt an einer wichtigen Schnittstelle. Doch eine gesetzliche Pflicht, überschüssige Lebensmittel zu spenden, ist nicht zielführend. Politik, Zivilgesellschaft und Individuen müssten neue Lösungsansätze entwickeln. Es entstehen bereits neue Bürgerinitiativen, die Essen "retten" und die Zusammenarbeit von Tafeln, Öffentlichkeit und Händlern fördern.

Für Kirchengemeinden vor Ort könnte eine neue Aufmerksamkeit für das Abendmahl eine Möglichkeit bieten, Christinnen und Christen für den Zusammenhang von Spiritualität und gesellschaftlichem Engagement zu sensibilisieren. Weil es im Abendmahl um die tiefe Bedeutung gerade der elementaren Schöpfungsgaben von Brot und Wein geht, richtet es sich auch gegen die Geringschätzung unserer Lebensmittel. Zugleich protestiert die Hoffnung auf das vollendete Reich Gottes gegen den Hunger in unserem Land. Gemeinden könnten vor Ort spirituelle Praxis stärker mit sozialen Aktivitäten zum Thema Verschwendung und Not verbinden.