Wenn die Zeit still steht

Weihrauch, Myrrhe und Wachholder bei einer Räuchersitzung
© epd-bild/Hanna Spengler
Getrocknete Räucherwaren bei einer Sitzung zum Ausräuchern von "Haus und Stall" mit Wacholder, um angebliche böse Geister zu vertreiben; mit Beifuss, um die guten heraufzubeschwören; mit Weihrauch und Myrrhe, um christliche Traditionen zu betonen.
Bräuche rund um die "Raunächte"
Wenn die Zeit still steht
In den dunklen Nächten zwischen Weihnachten und dem 6. Januar jagten zu alter Zeit Geister und Dämonen durch die Fantasien der Lebenden. Am Dreikönigstag endeten die "Raunächte". Vergessene vorchristliche Rituale und Volksbräuche und ihre Bedeutungen.

Die Sonne steht tief, die Zeit scheint still zu stehen zwischen dem 21. Dezember und dem 6. Januar: Es sind die Tage von der Wintersonnenwende bis zur "Erscheinung des Herrn" am Epiphaniastag, auch als Tag der Heiligen Drei Könige bekannt. "Raunächte" nannte man diese Zeit früher. Je nach Region begannen die Raunächte am 21. oder am 25. Dezember.

Der Rückblick auf alte Bräuche in der Zeit "zwischen den Jahren" scheint heute beliebt zu sein. In den Buchhandlungen türmen sich Bände über die traditionellen Raunächte: Einführungen in vorchristliche Mythen und Kulte, Anweisungen für längst vergessene Rituale und Volksbräuche. Dazu gehört das Räuchern, denn einst wurden in dieser Zeit Haus und Stall ausgeräuchert - mit Wacholder, um angebliche böse Geister zu vertreiben, mit Beifuß, um die guten heraufzubeschwören, mit Weihrauch und Myrrhe, um christliche Traditionen zu betonen.

Unklar ist die Herkunft des Begriffs. Die "Raunächte", die erst mit der Rechtschreibreform das Binnen-"h" verloren haben, könnten vom "Rauch" stammen. Oder sie könnten - wie die Titelheldin in dem Grimm'schen Märchen "Allerlei-Rauh" in ihrer geflickten Fellkleidung - auf Felle verweisen, die "Rauchwaren" des Kürschnerhandwerks.

Denn haarig und struppig wie Wolf und Bär stellte man sich früher jene Dämonen vor, die in den dunklen Tagen um die Jahreswende angeblich ihr Unwesen trieben. In der alpenländischen Volksüberlieferung heißen sie "Perchten". Bei sogenannten Perchtenläufen setzen sich die Teilnehmer noch heute gruselige Holzmasken mit Hörnern auf und tragen Kleidung aus Fell oder Stroh. Glocken und Schellen sollen mit ihrem Lärm das Böse vertreiben. Mit Silvesterböllern und Feuerwerk werden heute nicht mehr Dämonen vertrieben, aber der Lärm hat als Brauch überlebt.

Auch das Bleigießen an Silvester geht zurück auf vorchristliche Bräuche, auf Orakelsprüche in der Zeit zwischen den Jahren. Überlebt als Symbol hat außerdem der Fliegenpilz als Glückspilz, den "Väterchen Frost" einst für die Slawen und der Schamanengott Odin für die Germanen um die Wintersonnenwende zur Bewusstseinserweiterung beim Julfest mitbrachte.

Das Geheimnis des Marzipanschweins

Marzipanschweinchen erinnern an den Eber, Reittier des altgermanischen Gottes Freyr. Aber auch den Kelten war das Schwein heilig. Am Vorabend des 6. Januar tafelten sie mit Schinken und Speck und versteckten eine Bohne in einem Kuchen. Wer die Bohne entdeckte, wurde zum Bohnenkönig gekrönt. Die Bohnen stellten die Ahnen dar, die sich der keltischen Vorstellung zufolge wieder verkörpern würden.

In den Raunächten war in der Vorstellung der Alten nicht nur der sprichwörtliche Teufel los, sondern vor allem die Erdgöttin in diversen Erscheinungsformen und Namen: etwa als Frau Holle oder Frau Perchta. Als römisch-heidnische Diana führt sie alten Sagen nach um die Jahreswende die "wilde Jagd" von Gespenstern und Geistern an, die sich in Wäscheleinen verfangen konnten. Deshalb hieß es früher, man solle zwischen den Jahren keine Wäsche aufhängen.

Getrocknete Räucherwaren bei einer Räuchersitzung zum ausräuchern von "Haus und Stall" mit Wacholder, um angebliche böse Geister zu vertreiben, mit Beifuss, um die guten heraufzubeschwören, mit Weihrauch und Myrrhe, um christliche Traditionen zu  betonen.

Die "wilde Jagd" - als Begriff geprägt von Jacob Grimm - wurde zu einem beliebten Motiv der Romantik. Theodor Körner hat es in seinem Lied von "Lützows wilder verwegener Jagd" 1813 aufgenommen. Goethes Schwager Christian August Vulpius schrieb 1805 einen Roman unter dem Titel "Frau Holda Waldina die wilde Jägerin". Bei dem Komponisten Carl-Maria von Weber jagen die Gespenster durch die "Wolfsschlucht" der "Freischütz"-Oper. Im 20. Jahrhundert haben Metal-Musiker die "wilde Jagd" aufgegriffen.

Das Ende der Raunächte ist der 6. Januar. Es ist der Tag des Hochfests Epiphanias, das von den frühen Christen mit der Geburt Jesu zusammen gefeiert wurde. Das Wort Epiphanias ist abgeleitet vom griechischen Wort "epiphaneia" für "Erscheinung". Heute wird es oft als Dreikönigsfest begangen: Die drei Weisen aus dem Morgenland, die im Matthäusevangelium dem Stern von Bethlehem bis an die Krippe des Jesuskindes folgen, prägen das Hochfest. In Ostkirchen wird am 6. Januar zugleich die Taufe Christi und die Offenbarung des dreifaltigen Gottes gefeiert. In Österreich nennt man den 6. Januar manchmal noch heute "Weihnachtszwölfer" - christliches Echo der zwölf Raunächte.