TV-Tipp: "Und ihr schaut zu"

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9. November, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Und ihr schaut zu"
Die Zeit, heißt es, heile alle Wunden. Das mag in den meisten Fällen stimmen, doch manche Wunden heilen nie: Wenn völlig unerwartet ein geliebter Menschen aus dem Leben gerissen wird, bleibt für immer eine Leere zurück.

Anfangs wird diese Leere mit Trauer und Verzweiflung gefüllt, aber dann schlagen die Gefühle oft in eine meist ziellose Wut auf Gott oder das Schicksal um; erst recht, wenn wie zum Beispiel bei Unglücksfällen tatsächlich eine sogenannte höhere Gewalt im Spiel ist. Manchmal lässt sich der Zorn jedoch sehr wohl kanalisieren, und davon handelt dieser Film, wie bereits der Titel andeutet. Das Drehbuch basiert auf wahren Begebenheiten. Dominique Lorenz erzählt die Geschichte einer Mutter, die ihre Tochter verliert: Studentin Mia wird an einer Ulmer Kreuzung von einem Auto erfasst, als der Fahrer einen Herzinfarkt hat; ein tragisches Ereignis, bei dem es keinen Schuldigen gibt. Das ändert sich, als Jenni Schubert (Anja Schneider) im Netz auf Videos über den Unfall stößt: Mehrere Menschen haben umgehend ihre Smartphones gezückt und das Geschehen gefilmt. Auf einem dieser Videos entdeckt sie einen Mann, dessen Auto verhindert, dass der Rettungswagen zum Unfallort durchkommt; außerdem hält er einen Sanitäter auf. Nun hat Jenni ein Ziel für ihren Zorn: Diese Leute will sie zur Rechenschaft ziehen. 

"Und ihr schaut zu" nimmt sich viel Zeit. Gerade in der ersten Hälfte weicht die Kamera nicht von Jennis Seite, als wolle sie ihr in diesen schweren Stunden Beistand leisten. Geduldig wie eine gute Freundin begleitet der Film die Mutter durch ihre Gefühlsschwankungen. Beiläufig kommt zur Sprache, dass sie nicht mit Beistand durch Mias Erzeuger rechnet; Jakob Filser (Aurel Manthei) hat sich nie um die Familie gekümmert und Unterhalt nur gezahlt, wenn er zufällig mal Geld hatte. Immer wieder fährt Jenni nach Ulm, um mit Hilfe von Mias WG-Mitbewohnerin Ali (Maral Keshavarz) rauszufinden, wer die Videos gedreht hat und wer der Mann ist, der die Straße blockiert hat. Sie stellt ihn zur Rede, aber anstatt sich zu entschuldigen, wird Sven Giebert (Dominik Weber) handgreiflich. Seine schwangere Frau ist schockiert über diesen Mangel an Empathie, sodass sich jenseits der eigentlichen Handlung noch ein Ehedrama ergibt. Jenni revanchiert sich auf ihre Weise und demoliert Gieberts Auto. Zu einer weiteren wichtigen Figur entwickelt sich eine Anwältin, die sich des Falls annimmt. Der Polizist, der die Juristin empfohlen hat, hatte Jenni vorgewarnt: Die Frau habe "Haare auf den Zähnen", was sich als purer Euphemismus entpuppt. Wenn ihr zum Heulen sei, sagt Katharina Nolte (Bärbel Schwarz) beim ersten Gespräch in einem Lokal, "dann bitte nicht hier, sondern vor Gericht." Eigentlich will sie das Mandat ohnehin nicht annehmen, weil sie fürchtet, dass die trauernde Mutter auf halber Strecke einknicken könnte "wie ein Mikado-Stäbchen". 

Der Rest sind Tränen. Michaela Kezele hat bei ihrer Umsetzung des Drehbuchs längst nicht alle Rührungsregister gezogen; trotzdem ist "Und ihr schaut zu" natürlich ein ungemein bewegender Film. Schon bei Jennis Abschied von der zum Auftakt und in den Rückblenden sehr natürlich von Katharina Stark verkörperten Mia sowie bei der Trauerfeier dürfte kein Auge trocken bleiben, aber spätestens bei Jennis Begegnung mit jenem Mann, der ihrer Tochter in den letzten Lebensmomenten Beistand geleistet hat, dürften alle Dämme brechen; viele Eltern werden sich das womöglich nicht antun wollen. Für die Regisseurin ist das Drama ein eher ungewöhnlicher Stoff, zumindest gemessen an ihren bisherigen Fernsehfilmen, darunter zwei Episoden für die heitere ARD-Freitagsreihe "Zimmer mit Stall" sowie die tragikomische Liebesgeschichte "Eine Liebe später", ebenfalls nach einem Drehbuch von Dominique Lorenz, die unter anderem auch Autorin der "Annie"-Filmreihe mit Bernadette Heerwagen ist (ZDF). Kezele hat vor allem die Szenen über Jennis Trauer sehr behutsam und mit viel Empathie inszeniert. Als die Mutter die Nachricht von Mias Tod erfährt, zieht sich die Kamera (Felix von Muralt) diskret zurück; auch die sanfte Musik (Martina Eisenreich, Julian Muldoon) findet stets den passenden Tonfall. Das gilt erst recht für Anja Schneider, dank deren Spiel Jennis emotionale Achterbahn bis hin zu ihrem Appell vor Gericht jederzeit nachvollziehbar ist: "Was wären wir denn ohne Mitgefühl?" Vielleicht hat der Film ja tatsächlich zur Folge, dass Gaffern, die an einem Unfallort reflexartig ihr Smartphone zücken wollen, durch den Kopf geht: Dort könnte auch ein Mensch liegen, der mir nahesteht. Im Anschluss zeigt das "Erste" eine Dokumentation über die "Lust am Leid der anderen" ("Filmen ohne Gnade", 21.45 Uhr).