TV-Tipp: "Die Bürgermeisterin"

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24. Oktober, ZDF, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Die Bürgermeisterin"
Das sind doch nur irgendwelche Trolle, beruhigt Leonie ihre Mutter, die sich über Internetkommentare aufregt. Aber dann wird der Unflat sehr real, als Leonie (Jule Hermann) kurz drauf in einen vermeintlich gepolsterten Umschlag greift.

Spätestens jetzt weiß Claudia Voss (Anna Schudt), dass nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familie einen hohen Preis für ihr Engagement zahlen muss. Dabei ist die ehrenamtliche Ortsteilbürgermeisterin einer Kleinstadt bloß ausführendes Organ: Der Landrat hat beschlossen, dass in Neustadt-Linden Flüchtlinge unterkommen sollen. Claudia sieht keinerlei Grund, diese Entscheidung zu kritisieren; für sie ist das eine Frage der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit, von Artikel 16a des Grundgesetzes ("Politisch Verfolgte genießen Asylrecht") ganz zu schweigen. Einige ihrer Mitmenschen sehen das allerdings ganz anders. Sie sind in der Minderheit, aber dafür sehr präsent. Ihr Wortführer ist ein Lokalpolitiker, der in seinen öffentlichen Äußerungen so tut, als sei Claudia dafür verantwortlich, dass die Flüchtlinge nach Linden kommen.

Veith Landauer (Alexander Beyer) organisiert regelmäßige Versammlungen auf dem Marktplatz, wo sich prompt auch reichlich fragwürdige Gestalten von außerhalb einfinden. Als er zu einem "Bürgerspaziergang" aufruft, der rein zufällig ganz in der Nähe des Hauses von Familie Voss endet, ist für Claudias Mann Peter (Felix Klare) endgültig eine Grenze erreicht.

Das ZDF nennt den Film schlicht "Die Bürgermeisterin". Der Arbeitstitel lautete "Die Würde des Menschen", und darum geht es in der Tat: weil Claudia hilflos mit ansehen muss, wie ihre Würde mit Füßen getreten wird. Klugerweise verzichtet Magnus Vattrodt in seinem Drehbuch darauf, ihren Gegenspieler zu dämonisieren. Der Unternehmer Landauer ist kein tumber Neonazi, sondern ein typischer Biedermann, der mit seiner vermeintlich fürsorglichen Haltung vielen Lindenern aus der Seele spricht. Appelle an die typische Angst vor dem Fremden und Hinweise auf die angeblich gefährdete "deutsche Lebenskultur" genügen völlig, und schon ist die Diskussion von Begriffen wie Sozialschmarotzer, Scheinasylanten und Vergewaltigern geprägt. 

Natürlich ist das Drama weder ein Thriller noch ein Horrorfilm, zumindest nicht im klassischen Sinn, aber Regisseurin Christiane Balthasar, die unter anderem fast alle Episoden der ZDF-Krimireihe "Kommissarin Heller" gedreht hat, bedient sich einer durchaus vergleichbaren Dramaturgie: Das Unheil kommt immer näher, und niemand kann etwas dagegen tun. Anfangs sind es nur die hasserfüllten Kommentare im Internet, auf die Claudia mit einem beinahe rührend wirkenden Appell an die "gute Kinderstube" reagiert, doch dann manifestiert sich das Grauen in der Wirklichkeit: Die Bürgermeisterin wird telefonisch bedroht, auf Peters Transporter hat jemand "Volksverräter" geschmiert, in seiner Schreinerei werden Aufträge storniert. Claudias Herzensprojekt ist ein Ärztehaus, aber das Arztehepaar von außerhalb, das sie schon so gut wie überzeugt hat, macht einen Rückzieher, weil Linden plötzlich als "rechtes Nest" gilt. Mittlerweile steht Familie Voss längst unter Polizeischutz.

Die Vorsichtsmaßnahmen, zu denen ein LKA-Beamter (Michael Sideris) rät, verdeutlichen das ganze Ausmaß der "diffusen Bedrohungslage": nicht mehr allein unterwegs sein, wenn es dunkel ist; vor jeder Autofahrt die Radmuttern kontrollieren; Feuerlöscher in jedem Stockwerk; wichtige Dokumente ins Bankschließfach; und den Briefschlitz in der Haustür verschließen, damit keine Böller in den Flur geworfen werden können. 

Grimme-Preisträger Vattrodt hat die Hauptfigur mehreren authentischen Personen nachempfunden. Die im Anschluss an den Film ausgestrahlte Dokumentation "Engagiert und attackiert" (21.45 Uhr) stellt einige von ihnen vor. Der Autor versteht sein Drama als Appell an die breite Mitte der Gesellschaft, die das Verhalten der Antidemokraten ablehnt, sich aber viel zu selten zu Wort meldet oder gar selbst engagiert. Auch für diese Gruppe finden sich filmische Pendants: Zwar bildet sich innerhalb der Kirchengemeinde recht bald ein "Helferkreis", dessen Mitglieder zur Integration der Flüchtlinge beitragen wollen, aber je lauter Landauer und seine Gefolgsleute werden, desto stummer werden sie. Die Vorbilder für diese aus der rechten Ecke gern als "Gutmenschen" geschmähten Menschen werden sich durch den Filmschluss womöglich bestätigt fühlen: Einen Ausweg aus Claudias Dilemma hat auch Vattrodt nicht zu bieten.