"Wir müssen an Klischeebildern arbeiten"

Portrait der rheinischen Oberkirchenrätin Barbara Rudolph
© epd-bild/Norbert Neetz
Rheinische Oberkirchenrätin Barbara Rudolph engagiert sich unter anderem für Klimagerechtigkeit und indigene Völker.
Barbara Rudolph besorgt über Antisemitismus
"Wir müssen an Klischeebildern arbeiten"
Die rheinische Oberkirchenrätin Barbara Rudolph geht im September in den Ruhestand. Vorher nimmt sie noch an der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Karlsruhe teil. Sie setzt auf klare Äußerungen zu Klimagerechtigkeit sowie indigene Völker. Sorge bereitet der Leiterin der Abteilung Theologie und Ökumene im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche im Rheinland der Antisemitismus in Deutschland, wie sie im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erklärte.

epd: Wie blicken Sie aktuell auf den Nahostkonflikt?

Barbara Rudolph: Mit großer Sorge. Die Äußerungen von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zeigen, dass zumindest der Bedarf der Palästinenser sehr groß ist, mit dem Holzhammer bestimmte Dinge durchzusetzen. Er hat den Vergleich mit dem Holocaust nicht versehentlich verwendet. Er hat zwar gemerkt, dass er hier in Deutschland damit nicht landen wird, aber er erreicht damit bei vielen Menschen weltweit etwas. Ich komme gerade aus dem südlichen Afrika. Da liegt der Vergleich mit der Apartheid auf der Straße. Weder Israel noch den Palästinensern tut es gut, wenn man mit dem Holzhammer einen komplizierten Konflikt zu lösen versucht.

Für wie wahrscheinlich halten Sie irgendwann eine Lösung des Konflikts?

Rudolph: 60 Jahre Besatzung sind noch keine Ewigkeit, aber mehr als eine Generation. Das macht die Hoffnung immer schwerer. Und trotzdem gibt es keine Alternative zum Dialog. Wir führen immer weiter die Gespräche in der Hoffnung, dass sich etwas ergibt. Die aktuelle Entwicklung sowohl bei den Palästinensern als auch bei den israelischen Regierungen deutet nicht darauf hin, dass sie eine Lösung des Konflikts angehen wollen.

Was erwarten Sie von der Vollversammlung des Ökumenischen Rates in der kommenden Woche in Karlsruhe?

Rudolph: Ich erwarte, dass die Freude und das Interesse an der Ökumene in Deutschland wieder größer werden. Außerdem erwarte ich klare Äußerungen zu den Themen Klimagerechtigkeit und indigene Völker. Und ich erwarte, dass wir erleben, wie Inklusivität funktionieren kann. Der Ökumenische Rat der Kirchen ist dort immer ein großer Vorreiter gewesen. Außerdem hoffe ich, dass die orthodoxe Welt die Gelegenheit nutzt, miteinander ins Gespräch zu kommen. Dann wird es sicherlich auch Themen geben, die wir aus unserem Eurozentrismus übersehen haben. Beim letzten Mal hatten sich etwa der Kongo und die Pazifikinseln sehr stark ins Gespräch gebracht.

"Ich hoffe, dass die orthodoxe Welt die Gelegenheit nutzt, miteinander ins Gespräch zu kommen."

Könnten Sie das Thema der indigenen Völker noch etwas erläutern?

Rudolph: Die indigenen Völker sind häufig diejenigen, die am wenigsten Fürsprache haben und am meisten leiden. Der Raubbau am Urwald in Brasilien trifft die indigene Bevölkerung sehr stark. Das gilt auch für das Volk der San und die Dürre im südlichen Afrika. Und in Indien geschehen gerade in den Regionen, in denen die indigene Bevölkerung lebt, die größten Umweltverschmutzungen und auch die größten Dürrekatastrophen. Sie alle haben aber keine Öffentlichkeitsarbeit im klassischen Sinne. Brot für die Welt finanziert zum Beispiel Anwälte in Brasilien. Der ÖRK ist immer ein Forum gewesen für die Ungehörten auf dieser Welt.

Welche Herausforderungen sehen Sie zurzeit in der weltweiten Ökumene?

Rudolph: 1983 wurde ich Vikarin und wir hatten die sechste ÖRK-Vollversammlung in Vancouver mit dem Beschluss, uns für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einzusetzen. Alle drei Themen sind in diesen 40 Jahren eher pressierender geworden. Meine Sorge ist, dass die starke Kraft, sich für diese Welt und diese Themen einzusetzen, durch die kircheninternen Auseinandersetzungen um Wahrheit und richtige Erkenntnis verschluckt wird. Wie viel Kraft haben die Kirchen in den vergangenen 30 Jahren auf die theologische Beurteilung der Homosexualität verwendet? Es ist notwendig, sich nicht gegeneinander, sondern miteinander für diese Welt einzusetzen.

"Es ist notwendig, sich nicht gegeneinander, sondern miteinander für diese Welt einzusetzen."

Wie frustrierend ist das?

Rudolph: Mit zehn oder elf Jahren habe ich im Kindergottesdienst gelernt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Mit 20 Jahren habe ich gelernt: Die Schere ist noch weiter geworden. Ich habe irgendwann verstanden, dass mich das mein Leben lang begleiten wird. Ich könnte in Frustration oder Gleichgültigkeit verfallen. Ich kann aber auch sagen: Ich nutze meine kleine Kraft und meine Beziehungen, um Gegenakzente zu setzen. Da hat mir das Engagement in der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) und bei Brot für die Welt sehr geholfen, nicht in eine lähmende Frustration hineinzugleiten. Der Palästinenser-Bischof Munib Younan hat einmal sinngemäß gesagt: Wer an einen Gott glaubt, der vom Tod auferstanden ist, der ist zur Hoffnung verurteilt.

Welche Herausforderungen sehen Sie in der innerchristlichen Ökumene in Deutschland?

Rudolph: Unser großer Partner ist die römisch-katholische Kirche. Auf der einen Seite müssen wir sagen, wie in der katholischen Kirche manche Themen angegangen werden, ist nicht protestantisch: in der Frage der Laien, der Mitbestimmung, der Frauen, der Lebensformen und auch in der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt. Auf der anderen Seite darf man sich aber auch nicht die Liebe zu den katholischen Geschwistern und ihrer reichen Tradition nehmen lassen. Diesen Spagat macht im Moment die evangelische Kirche. Die andere Herausforderung ist, darüber nicht die anderen Konfessionen zu vergessen: die orthodoxe Kirche, die momentan durch den Krieg in der Ukraine besonders herausgefordert ist, und die Freikirchen, die die Generation der 20- bis 40-Jährigen erreicht, die uns in den Landeskirchen mitunter fehlen.

Wie sieht es mit Islam und Judentum aus?

Rudolph: Im Moment können wir kaum oder sehr schwierig mit den offiziellen Islamverbänden sprechen. Wir haben aber einen spannenden Diskurs mit Professoren und Intellektuellen. Die Herausforderung wird sein, diese Lebendigkeit auch verstärkt in den Verbänden zu entdecken. Mit den jüdischen Gesprächspartnern ist es immer wieder eine Herausforderung, an ihrer Seite zu stehen angesichts eines leider wieder wachsenden Antisemitismus. Für einen erkennbaren Juden ist es in Deutschland kaum möglich, über die Straße zu gehen, ohne angepöbelt zu werden. Das ist eine Herausforderung - nicht für die Juden, sondern für uns als Gesellschaft.

"Für einen erkennbaren Juden ist es in Deutschland kaum möglich, über die Straße zu gehen, ohne angepöbelt zu werden. Das ist eine Herausforderung - nicht für die Juden, sondern für uns als Gesellschaft."

Welche Erklärung haben Sie dafür?

Rudolph: Es gibt bei uns, im Gegensatz zum Islam, eine sehr alte, gewachsene, auch theologisch-christlich geprägte Vorstellung, in Krisenzeiten einen Sündenbock zu brauchen. Dafür werden immer wieder die Juden ausgewählt. Das zieht sich leider durch die Geschichte. Durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ist dies zwar gebrochen, aber nicht zerbrochen. In Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie kommen dann Ideen auf, die völlig irritierend sind und von denen wir dachten, es gäbe sie nicht mehr. Verstehen kann man es nicht. Es ist einfach irrational. Begegnungen können etwas verändern, weswegen viele jüdische Gesprächspartner inzwischen in Schulen gehen. Auch müssen wir an unseren Klischeebildern arbeiten und Juden nicht nur als Männer in schwarzen Anzügen mit Schläfenlocken darstellen.

Wie blicken Sie auf Ihre Tätigkeit in den vergangenen Jahren zurück?

Rudolph: Ich freue mich sehr darüber, dass unser Gespräch mit den Konfessionen im Rheinland und auch in Europa immer gut und freundschaftlich verlaufen ist. Mit Kirchen in Ungarn oder in Polen sind wir in einem sehr freundlichen, zugewandten Verhältnis geblieben, auch, wenn es manchmal auf der staatlichen Ebene Schwierigkeiten gab. Das hat damit zu tun, dass wir schnell zum Telefonhörer greifen oder mal eine E-Mail schreiben und fragen: "Kannst du mir dieses oder jenes mal erklären?" Ich bin sehr stolz darauf, dass wir fast nie übereinander, sondern miteinander gesprochen haben. In komplizierten Situationen haben wir über den Weg der Kirche dazu beigetragen, dass etwas besser wird. Ich erinnere da beispielsweise an den Versöhnungsprozess in Namibia.