TV-Tipp: "Der Kreuzzug der Kinder"

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23. Juli, ZDFinfo, 18.45 Uhr
TV-Tipp: "Der Kreuzzug der Kinder"
Jugendbewegungen gelten als Phänomen der Neuzeit. 1967 und 1968 waren es westdeutsche Studentinnen und Studenten, die demokratische Prozesse in Gang setzten, von denen die Gesellschaft bis heute profitiert.

Gut vierzig Jahre später waren es Schülerinnen und Schüler, die – inspiriert durch Greta Thunberg – für das Klima streikten; das war die Geburt von Fridays for Future. Etwas Ähnliches ist allerdings bereits vor gut 800 Jahren geschehen. Es ging weder um Demokratisierung noch um Umweltschutz, aber die Parallelen sind dennoch verblüffend: hier eine unzufriedene Jugend, dort charismatische Führungspersönlichkeiten wie weiland Rudi Dutschke oder jüngst Greta Thunberg, und schon ließen sich Tausende Kinder aus Deutschland und Frankreich dazu animieren, auf die Straße zu gehen. Ihr Ziel: Jerusalem, ihr Motiv: die Stadt von den muslimischen Besatzern zu befreien. 

"Der Kreuzzug der Kinder" geht in Form vieler Gespräche den Fragen nach, was die Jugendlichen damals angetrieben hat, woher sie stammten, wie erfolgreich ihr Unterfangen war, und vor allem: Stimmt das überhaupt oder handelt es sich bloß um einen Mythos? Stilistisch und konzeptionell erinnert die Dokumentation gerade auch dank vieler Spielszenen, die den Zweiteiler sehr aufwändig wirken lassen, an die typische "Terra X"-Handschrift. Die zum Teil spektakulären Rekonstruktionen, die eigens für diese Produktion entstanden sind – unter anderem teilt sich das Meer –, dienen jedoch allein der Illustrierung. Herzstück sind die Aussagen der Expertinnen und Experten, darunter neben Historikern auch ein Philologe, ein Theologe, eine Psychologin sowie eine Pathologin. Sie alle geben, unterstützt durch die Bilder, Einblick in eine Zeit, in der das Dasein der meisten Kinder nicht im Entferntesten mit den heutigen Lebensumständen zu vergleichen war. Kindheit in unserem Verständnis existierte schlicht nicht; wer essen wollte, musste arbeiten. 

Tatsächlich ist diese Nebenebene von Martin Papirowskis Dokumentation mindestens so faszinierend wie das eigentliche Thema, weil sich der Autor dank der insgesamt knapp neunzigminütigen Sendezeit einige Exkurse erlauben darf. Als Anschauungsmaterial dient ihm unter anderem das Grimm’sche Märchen von Hänsel und Gretel, deren Familie derart am Hungertuch nagt, dass der Vater sie in den Wald führt, wo er sie ihrem Schicksal überlässt. Vor diesem Hintergrund ist die damalige Landflucht vieler Kinder und Jugendlicher verständlich: In Städten wie Köln,  hofften sie, würde es Arbeit geben; oder Almosen. Womöglich war es nicht schwer, sie im Frühjahr 1212 nach dem Motto "Etwas Besseres als den Tod findest du überall" für den Kreuzzug zu begeistern. Zumindest ist offenbar verbürgt, dass ein Junge namens Nikolaus eine Vielzahl von Kindern um sich scharen konnte, um mit ihnen den Rhein hinauf zu ziehen. Dass sich zur selben Zeit in Frankreich ganz Ähnliches zutrug, ist zumindest ein Kuriosum: Dort hatte ein junger Mann die gleichen Visionen. Laut zeitgenössischer Schriften konnten beide Zehntausende motivieren, sich ihrem Kreuzzug anzuschließen. 

Papirowski sah sich also mit gleich zwei Aufgaben konfrontiert: Er wollte dem Wahrheitsgehalt dieser unglaublichen Geschichte auf den Grund gehen und die Wanderung Richtung Süden rekonstruieren. Den Kinderkreuzzug, daran konnte rasch kein Zweifel bestehen, hat es tatsächlich gegeben; aber wie übertrieben waren die Schilderungen? Dies allein hätte sich auch in 45 Minuten beantworten lassen, doch wie bei den meisten historischen Recherchen führte jede Erkenntnis gleich zur nächsten Frage: Beide Jünglinge sprachen im Namen Gottes, aber der Vatikan hatte noch nie sonderlich viel übrig für Menschen, die außerhalb der Kirche als Sprachrohr des Herrn auftraten. Wie also hat der Papst reagiert?

Besonders interessant sind die Bezüge zur Gegenwart. Ein Historiker sieht klare Parallelen zwischen dem Kinderkreuzzug und Fridays for Future: Weil die militärischen Befreiungsversuche der Erwachsenen gescheitert sind, hat die Jugend die Sache in die Hand genommen. Die Psychologin erklärt, dass die jungen Hungerflüchtlinge keinen Platz in der Gesellschaft hatten und daher womöglich ganz dankbar für die Aufgabe waren. Allerdings entpuppte sich die Aktion spätestens beim Versuch, die Alpen zu überqueren, als Himmelfahrtskommando: Die kindlichen Kreuzritter hatten weder Proviant noch passende Kleidung, vermutlich sind Hunderte auf der Strecke geblieben. Bei der Ankunft in Genau offenbarte sich ohnehin, dass Prophezeiung Lug und Trug war: Das Meer hat sich selbstredend nicht geteilt.