TV-Tipp: "Helen Dorn: Das rote Tuch"

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12. März, ZDF, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Helen Dorn: Das rote Tuch"
Geschichten werden in der Regel aus der Sicht einer zentralen Figur erzählt. In Krimis ist diese Person gern eine Art Reiseführerin, die das Publikum durch schockierende menschliche Abgründe leitet. Gute Drehbücher würden auch ohne diese Rolle funktionieren, dann allerdings als Drama. Andreas Karlström erzählt mit seiner ersten Arbeit für "Helen Dorn" gleich mehrere solcher Dramen. Ein vorzüglicher Krimi ist der Film dank der Umsetzung durch den erfahrenen Friedemann Fromm obendrein.

Die sechzehnte Episode der ZDF-Reihe beginnt mit einem spektakulär inszenierten Mord: Ein Paar hat sich zum Rendezvous auf einem Boot getroffen, als ein Feuer ausbricht. Die Frau kann sich retten, der Mann stirbt in den Flammen. Das Opfer, Ralph Wagner, hatte eine Gattin (Annett Renneberg), eine jüngere Geliebte (Barbara Prakopenka) und außerdem einen Freund und Geschäftspartner. Dieser Kompagnon, Thomas Lehmann (Jan Messutat), führt das offenbar außerordentlich erfolgreiche Immobilienunternehmen nun allein und LKA-Kommissarin Dorn (Anna Loos) auch gleich auf eine Spur: Die Männer erhalten regelmäßig anonyme Morddrohungen, seit sie von der Stadt Hamburg ein Gebäude kaufen wollen, das schon seit vielen Jahren besetzt wird. Die linke Szene hat ihm den treffenden Namen "Das rote Tuch" gegeben; und so heißt auch der Film.  

Fromm gehört hierzulande zu den besten seines Fachs, er ist unter anderem dreimal mit Grimme-Preisen geehrt worden: für eine Episode der ZDF-Krimireihe "Unter Verdacht" (2003), für den Mehrteiler "Die Wölfe" (2010, ZDF) sowie für die ARD-Serie "Weissensee" (2016). Die elegante Bildgestaltung mit ihren kühlen graublauen Stadtbildern ist ausgezeichnet; mit Kameramann Ralf Noack hat der Regisseur neben der nicht minder sehenswerten letzten "Helen Dorn"-Episode, "Die letzte Rettung" (2021), auch die ZDF-Miniserie "Unter Freunden" (2021) gedreht.

Die gute Musik (Edward Harris) sorgt für durchgehende Spannung. Umso willkommener sind die gelegentlichen Heiterkeiten, für die wie stets Tristan Seith als Kriminaltechniker Weyer zuständig ist. Die Rolle ist nicht groß, aber Seith vermittelt jedes Mal den Eindruck, als würden ihm die kleinen Missgeschicke und die Geplänkel mit Anna Loos großen Spaß machen; von den romantischen Momenten mit der aparten Rechtsmedizinerin (Nagmeh Alaei) ganz zu schweigen. Sehr schön sind auch die nach wie vor sehr trocken vorgetragenen Dialoge zwischen der Kommissarin und ihrem Vater (Ernst Stötzner).

Zu einem besonderen Krimi wird "Das rote Tuch" jedoch, weil Karlström – er hat zuletzt gemeinsam mit Thorsten Wettcke das Drehbuch zum ARD/ORF-Thriller "Jeanny – Das fünfte Mädchen" (2022) geschrieben –, seine Geschichte eindrucksvoll vielschichtig konzipiert hat; und weil sich die wichtigsten Figuren allesamt anders verhalten als erwartet. Natürlich fällt der Verdacht erst mal auf die linksautonome Szene. Deren Wortführer Dirk Müller (Florian Lukas) muss zu seiner Überraschung feststellen, dass ausgerechnet die Kommissarin, die doch das verhasste System repräsentiert, nicht bloß Sartre zitiert, sondern sogar Sympathien für seine Sache hegt; die nie erklärte oder ausgelebte Romanze zwischen den beiden verleiht dem Film eine weitere spezielle Note.

Müllers achtzehnjährige Tochter Emily (Leonie Wesselow) wiederum hat sich ausgerechnet in den Klassenfeind verliebt. Auch die zweite junge Frau in seinem Umfeld, Kampfgefährtin Nele (Lilly Charlotte Dreesen), wendet sich gegen ihn: Sie findet, er sei zu weich geworden, weshalb sie ihre Wut schließlich brutal an ihm auslässt. 

Ein weiteres Detail ist rein olfaktorischer Natur: Über der Handlung schwebt ein Hauch von Schießpulver, obwohl Schüsse erst zum Finale fallen. Action gibt es bis dahin trotzdem. Verfolgungsjagden zu Fuß mögen ein typisches Genre-Element sein, aber als Dorn Nele durch deren Nachbarschaft hetzt, ist das dank der nicht minder agilen Kamera deutlich flotter umgesetzt als in vielen anderen TV-Krimis. Gleiches gilt für eine deftige Prügelei zwischen Dorn und einigen Autonomen, bei der Müller ihr zu Hilfe eilt. Wie sich die beiden anschließend gegenseitig verarzten, ist romantischer als eine Kussszene. Neben den ohnehin sehenswerten namhaften Mitwirkenden halten sich auch die jungen Mitglieder des Ensembles ganz vortrefflich.

Lilly Charlotte Dreesen hat bereits in der funk-Serie "Druck" (2018/19) und erst recht zuletzt in der Joyn-Serie "Katakomben" (2021) gezeigt, was sie kann, und von Leonie Wesselow, bislang meist nur in Nebenrollen besetzt, wird es in Zukunft garantiert noch Einiges zu sehen geben. Sie spielt im Grunde drei Rollen: Erst emanzipiert sich Emily von ihrem Vater, dann wird sie zur Geliebten und schließlich zum Opfer, weil Karlström in seiner ohnehin facettenreichen Geschichte auch noch das Thema "MeToo" untergebracht hat. Dass tatsächlich bis zum Schluss offenbleibt, wer Wagner auf dem Gewissen hat, ist ein weiteres Qualitätsmerkmal des Films.