Wie Nördlingen den "Daniel" finanzierte

Kirchturm Daniel
© epd-bild / Annette Zoepf
Die Stadt Nördlingen finanzierte im 15. Jahrhundert ihren Kirchturm - den sogenannten „Daniel“ - mit einer Ablasskampagne. Der Ablasshandel war „die erste Wertpapierblase in der Geschichte Europas“, so Kunsthistoriker Georg Habenicht. Zum Platzen brachte sie Martin Luther.
Turmbau per Sündenerlass
Wie Nördlingen den "Daniel" finanzierte
Der Kunsthistoriker Georg Habenicht stieß im Nördlinger Stadtarchiv auf Dokumente, die zeigen, wie die Nördlinger für ihren Kirchturm "Daniel" massenhaft Ablässe verkauften. Das Ablass-System beschreibt er dabei als "erste Wertpapierblase Europas".

Besonders beeindruckt haben Georg Habenicht die Zettel, auf denen die Namen der Beichtväter stehen. Knapp 30 davon sind im Nördlinger Stadtarchiv noch vorhanden. Die Namensschilder stammen aus dem 15. Jahrhundert. Sie klebten damals auf den Lehnen der Beichtstühle in der Nördlinger Kirche St. Georg. „Man kann sogar noch die Flecken aus Wachs sehen, mit dem die Zettel an die Stühle geheftet wurden“, sagt Habenicht.

Schon seit Jahren forscht Habenicht im Nördlinger Stadtarchiv. Der Kunsthistoriker machte dort im Jahr 2015 eine außergewöhnliche Entdeckung. Habenicht fand Unterlagen und Dokumente, die detailliert zeigen, wie die Stadt ihren Kirchturm - den sogenannten „Daniel“ - mit einer Ablasskampagne finanzierte. Beschrieben hat der 54-Jährige das in seinem Buch „Ablass - Wertpapier der Gnade“.

Ablasshandel erste Wertpapierblase Europas

Es ist eine umfassende Darstellung des Ablasshandels im Mittelalter. Illustriert wird die Funktionsweise des Ablasswesens unter anderem am Beispiel Nördlingens. Habenicht erklärt dabei das System des Sündenablasses mit Begriffen aus dem Bankwesen und der Ökonomie: Auf seinem Höhepunkt habe der Ablasshandel zur „ersten Wertpapierblase in der Geschichte Europas“ geführt. Zum Platzen brachte sie Martin Luther. Die Folge war die Reformation.

Zweimal täglich erklimmt der Türmer Günter Burger den 90 Meter hohen "Daniel".

Ausgangspunkt dieser Entwicklung war der Glaube der Menschen im Mittelalter ans Fegefeuer. Je mehr Schuld sie auf sich geladen hatten, desto länger mussten sie dort schmoren. Fromme Taten jedoch verminderten die jenseitige Leidenszeit. Mit Messen, Wallfahrten oder Gebeten sorgten die Menschen daher vor. So ersparte etwa eine Wallfahrt zur Wunderblutkirche im Brandenburgischen Wilsnack pro Meile 40 Tage im Fegefeuer. Wer regelmäßig ein Jahr lang in die Nürnberger Kirche St. Sebald ging, dem wurden gar 1007 Jahre im Fegefeuer gestrichen. Diesen Erlass an Leidenszeit im Jenseits nannte man Ablass.

Eine Glocke auf Wanderschaft

So vergütete das System des „Partikularablasses“ jede fromme Leistung mit einer bestimmten Menge an Gnade - und löschte einen Teil der eigenen Schuld. Daneben gab es den „Plenarablass“. Er setzte das eigene Sündenkonto mit einem Schlag auf Null. Nötig war dazu nur die Beichte - und die Zahlung einer Ablassgebühr. Die Gnade, die dabei gewährt wurde, spendete der Papst: Er schöpfte sie aus dem „Gnadenschatz“ der Kirche. Weil der Mensch jedoch immer wieder sündigte, ging die Kirche dazu über, Gnade zu verbriefen: Sie ließ Ablasszettel in großen Auflagen drucken. Diese speicherten Gnade so lange, bis der Besitzer sie einlöste. „So konnte sich jeder sein eigenes Gnaden-Depot zulegen“, sagt Habenicht.

Das Sündenkonto mit einem Schlag ausgleichen

Auch Nördlingen hatte sich im Jahr 1480 beim Papst die Lizenz erkauft, Ablasszettel in Massen zu drucken. Mit einer Ablasskampagne wollte die Stadt den Bau des „Daniel“ finanzieren. Aus den Unterlagen, die Georg Habenicht im Nördlinger Stadtarchiv sichtete, geht hervor, wie umfangreich das Vorhaben war - und wie es ablief. Weit über die Stadtgrenzen hinaus machten die Nördlinger Werbung für ihre Massenbeichte. Mehr als 50 Beichtväter nahmen im Zwei-Schicht-System die Beichte ab - in 40 Beichtstühlen, die eigens dafür angefertigt worden waren. An deren Lehnen klebten die Zettel mit den Namen der Beichtväter. Im Anschluss an die Beichte konnten die Sünder einen Beichtbrief kaufen, den sie mit nach Hause nahmen. Über die Kasse, in die sie dabei ihre Ablassgebühr zahlten, wachten zwei Priester und mehrere Knaben „Das alles ist in den Dokumenten so plastisch beschrieben, als sehe man dabei zu“, sagt Habenicht.

Wie viele Gläubige nach Nördlingen kamen, um sich dort vollständigen Ablass zu sichern, ist unbekannt. Nördlingen war aber nicht die einzige Stadt, die mit dem Ablasswesen Geld einnahm. Der Plenarablass sei in dieser Zeit „ein finanzielles Erfolgsmodell ohne Beispiel“ gewesen, so Habenicht. München etwa lockte 1477 mit einer Ablasskampagne 65 000 Pilger an. Ins württembergische Urach reisten 1479 rund 40 000 Gläubige.

Der massenhafte Verkauf der Ablässe jedoch ließ sie immer billiger werden. Gleichzeitig wuchs der Zweifel, ob der Ablasszettel wirklich ein kostbarer Teil des kirchlichen Gnadenschatzes sei. Martin Luther erklärte den Papstablass für überflüssig: Gott verschenke Gnade schließlich umsonst. Der Mönch ließ damit die Ablass-Blase platzen. Das System kollabierte. Es kam zur Reformation. Dem „Daniel“ freilich konnte das nichts anhaben. Ihren Kirchturm hatten die Nördlinger 1490 fertiggestellt. Er ist bis heute das weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt.