TV-Tipp: "Am Anschlag"

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24. August, ZDF Neo, 21.45 Uhr
TV-Tipp: "Am Anschlag"
Panik im Wiener Einkaufszentrum "Shunshine City": Bei einem Amoklauf hat es Tote und Verletzte gegeben; vom Täter fehlt jede Spur. Die Bilder sind spektakulär und verheißen einen Thriller.

Ausschnitte aus einer Nachrichtensendung informieren über die Hintergründe. Ein Gerichtspsychiater erläutert als TV-Experte, warum Menschen zur Waffe greifen und um sich schießen. Er vermutet eine lange Vorgeschichte und spricht von einem Kränkungsprozess.

Nach dem aufwändigen Auftakt ändert sich die Tonart jedoch radikal, denn nun blendet die im Auftrag von ZDF und ORF entstandene Serie fünf Tage zurück. Fortan wird jede Folge im Stil eines Countdowns einen Tag aus dem Leben von fünf Menschen erzählen, die in ihrem Alltag ständig Demütigungen erleben. Deshalb sind die einzelnen Episoden auch unterschiedlich fesselnd, denn nicht alle Figuren sind gleichermaßen faszinierend; von der Besetzung ganz zu schweigen. Für die beiden Auftaktfolgen gilt das nicht, zumal Murathan Muslu und Julia Koschitz grundsätzlich sehenswert sind: Georg ist Wachmann in Shunshine City. Vor einigen Monaten hat Lebensgefährtin Eva (Antje Traue) ihr Augenlicht verloren. Der Unfall hat das Paar zusammengeschweißt, doch Eva ist seither vereinsamt. Georg will daher eine Familie gründen, aber dafür braucht er dringend eine Beförderung; und ausgerechnet jetzt kursiert ein Video im Internet, das ihn beim scheinbar brutalen Umgang mit einem Jugendlichen zeigt.

Der Reiz dieser Rolle liegt vor allem im Kontrast: Georg ist ein Kraftpaket, aber der Druck zermürbt ihn; sein Anabolika-Konsum führt außerdem zu Herzproblemen. Auch bei Mira (Julia Koschitz) klaffen Schein und Sein auseinander: Sie arbeitet bei einer Versicherung und ist die rechte Hand ihres Chefs, Richard (Anian Zollner). Mit ihm hat sie aus Karrieregründen eine Affäre und auch ansonsten anscheinend alles im Griff, aber das einzige, was sie wirklich kontrollieren kann, ist die Nahrungsaufnahme und -abgabe: Erst stopft sie heißhungrig Kuchen in sich hinein, dann geht sie aufs Klo kotzen. Dass Richard nicht nur die Lorbeeren für ihre Arbeit erntet, sondern sie zudem vor den Kunden bloßstellt, demütigt sie zutiefst.

Nach ähnlichen Mustern funktionieren auch die weiteren Figuren. Sie alle erleben Zurückweisungen, Beleidigungen und Verletzungen, manchmal beiläufig, mitunter ganz gezielt: Ärztin Sarah (Johanna Wokalek) hat sich bei der Eröffnung einer Praxis finanziell übernommen; die Bank gewährt ihr keinen weiteren Kredit, der Ex-Mann bleibt den Unterhalt für die beiden Kinder schuldig. Bei allen Beteiligten hat sich im Lauf der Jahre enorm viel Wut angestaut, die ein Ventil braucht, und natürlich bezieht "Am Anschlag" auch daraus eine gewisse Spannung, denn über jeder Folge schwebt die Frage, wer am Ende der Rückblende für den Amoklauf verantwortlich sein wird. Georg drängt sich als Kandidat geradezu auf, zumal es in der Mehrzahl Männer sind, die ihren Zorn nach außen richten, während Frauen dem Klischee nach eher implodieren; trotzdem kennt die traurige Chronik dieser schockierender Taten durchaus auch weibliche Täterinnen. Mira lässt ihren Zorn immerhin an Richards Auto aus.

Die eigentliche Faszination der von Agnes Pluch konzipierten Serie, die wie ein viereinhalbstündiger Spielfilm in sechs Kapiteln konstruiert ist, ergibt sich aus dem Puzzle-Effekt der Geschichte. Immer wieder sorgt die Autorin, die zuletzt unter anderem den ORF-Landkrimi "Alles Fleisch ist Gras" mit Tobias Moretti als Richter und Henker geschrieben hat, für Querverbindungen: Georg sucht wegen seiner Herzprobleme die Praxis von Sarah auf, deren Sohn Nachhilfeschüler von Miras Mutter Ingeborg (Ulrike Willenbacher) ist; sie ist die vierte Hauptfigur. Nummer fünf ist der junge Kellner Lorenz (Jonas Holdenrieder). Er ist in Friseurin Saschi (Lea Zoë Voss) verliebt, die kurz zuvor Georgs unsympathischem Kollegen Mario (Paul Wollin) den Laufpass gegeben hat. Für sie alle hat Pluch, die sich durch mehrere Arbeiten für Nikolaus Leytner einen Namen gemacht hat (darunter das preisgekrönte Alzheimerdrama "Die Auslöschung", 2013), komplexe Biografien entworfen; Georg zum Beispiel war einst Roadie von Rammstein, Miras Vater war ein bekannter Dirigent, den mitten im Konzert der Schlag getroffen hat.

Die unausgesprochene Mahnung der Serie zu mehr Achtsamkeit ergibt sich allerdings aus der Gegenwart: In den letzten Jahren hat die Diskussion über sexuelle Übergriffe ("MeToo") den Blick auf vermeintlich weniger schwerwiegende Demütigungen verstellt, deshalb bietet "Am Anschlag" neben einem Beispiel für eine besonders widerliche Form der sexuellen Belästigung ein ganzes Sammelsurium an entsprechenden kleinen und großen Fehltritten und somit einen regelrechten "Reigen der Kränkungen", wie es Pluch formuliert: Sie will zeigen, dass emotionale Verletzungen immer mittelbare Konsequenzen haben, weil die betroffenen Personen die erlittene Schmach an anderer Stelle weitergeben. Die Serie präsentiert gewissermaßen fünf Fallstudien als Antwort auf die Frage, was einen Menschen zum Äußersten treibt.

Kurze Vorgriffe auf das allerdings nur wenige Minuten dauernde Finale – in der letzten Folge werden die verschiedenen Konflikte endgültig auf die Spitze getrieben – erinnern daran, dass die Dramaserie zumindest hintergründig ein Thriller ist, und diese Mischung birgt natürlich einen weiteren Reiz. Regisseur Umut Dağ hat zuletzt unter anderem für den Hessischen Rundfunk einen ausgezeichneten "Tatort" gedreht ("Das Monster von Kassel", 2019). Mit Muslu hat er bereits bei "Das deutsche Kind" (2017) zusammengearbeitet, einem Drama über den Sorgerechtsstreit zwischen einem muslimischen Ehepaar und den deutschen Großeltern eines verwaisten Mädchens. Neo zeigt heute und morgen ab 21.45 Uhr jeweils drei Folgen. In der ZDF-Mediathek kann die Serie bereits komplett abgerufen werden.