TV-Tipp:  "Der Gutachter - Ein Mord zuviel"

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TV-Tipp:  "Der Gutachter - Ein Mord zuviel"
11. Mai, 3sat, 20.15 Uhr
Nicht nur der Titel deutet auf eine Reihe hin, auch die Hauptfigur hätte das Potenzial für weitere Geschichten: Robert Siedler ist forensischer Psychiater, dessen Gutachten entscheidenden Anteil daran haben, ob Verbrecher nach Verbüßung ihrer Strafe freigelassen werden.

Das ZDF hat mit Richard Brock ("Spuren des Bösen") und Joe Jessen ("Neben der Spur") zwar bereits zwei Reihenfiguren für Ermittlungen in der Seele, aber Benjamin Sadler, den auch mit Mitte vierzig noch eine jugendliche Aura umgibt, ist ein völlig anderer Typ als Heino Ferch und Ulrich Noethen. Im Gegensatz zu den an Geist oder Körper versehrten Kollegen – Brock ist verbitterter Witwer, Jessen leidet unter der Parkinson-Krankheit – führt Siedler ein erfrischend normales Leben: Er ist glücklich verheiratet, wird gerade zum ersten Mal Vater, genießt große berufliche Anerkennung und ist mit sich im Reinen; und all das wird der Film nach und nach demontieren.

Grimme-Preisträger Jochen Bitzer ("Der Fall Jakob von Metzler") konfrontiert den Psychiater in seinem Drehbuch mit zwei Fällen, die zwar nichts miteinander zu tun haben, sich aber dennoch gegenseitig beeinflussen. Der Film beginnt als Thriller: Eine junge Frau, Arme und Hände voller Blut, stolpert am frühen Morgen auf die Straße; die Müllabfuhr nimmt sich ihrer an. Einer der Männer folgt der Blutspur zurück in eine Wohnung; auf dem Bett liegt ein Toter mit einem Messer im Rücken. Die minderjährige Rebekka (Johanna Polley) wird später gestehen, den Dealer im Drogenrausch erstochen zu haben; allerdings kann sie sich an nichts mehr erinnern. Siedler durchschaut zwar recht bald das Spiel, das die junge Frau mit ihm treiben will, aber die Auflösung dieser Ebene ist trotzdem überraschend. Zentrale Figur des zweiten und eigentlichen Handlungsstrangs ist der Mörder und ehemalige Alkoholiker Friedhelm Knecht (Michael A. Grimm), der vor vielen Jahren im Suff einen Mann erschlagen hat. Siedler bescheinigt ihm eine erfolgreiche Therapie, Knecht wird entlassen.

Dieser Teil der Geschichte steht im Vordergrund, denn mit Knecht verknüpft Bitzer das brisante Thema des Films: Wie geht die Gesellschaft mit solchen Menschen um? Resozialisieren oder Wegsperren für immer? Wie seine TV-Kollegen ist auch Siedler Hochschuldozent und erörtert diese Fragen zu Beginn mit seinen Studenten, ein erzählerisches Mittel, dass die Autoren der beiden anderen Reihen ebenfalls gern verwenden. Anhand des Falls Knecht illustriert Bitzer das Restrisiko, das nur dann ausgeschlossen werden kann, wie es im Epilog heißt, wenn man dafür die Freiheit opfert: Kaum auf freiem Fuß, kauft Knecht erst mal eine Flasche Wodka, aber das ist bloß eine Drehbuchfinte; die Flasche ist für Siedler. Dass er sie mitsamt einem Strauß Blumen Siedlers hochschwangeren Frau Kathrin (Jasmin Gerat) überreicht, ist ein erster Hinweis auf das Ungemach, das Kathrin später noch erleiden wird.

Clever ist auch die Besetzung Knechts mit Michael A. Grimm: Der Bayer macht auf den ersten Blick einen gemütlichen Eindruck, spielt aber oft Typen, hinter deren Jovialität kleinbürgerliche Abgründe lauern. Deshalb bleibt lange offen, ob der durchaus sympathische Knecht tatsächlich wieder zum Mörder geworden ist: Der einzige Mensch, der es wirklich gut mit ihm meint, eine Kellnerin (Milena Dreißig), ist zu Tode geprügelt worden. Für die Öffentlichkeit ist der Fall klar, Siedler findet sich umgehend am Pranger wieder; und der Witwer lässt seine Wut an Kathrin aus. Diese Szene besteht nur aus Bedrohung, entwickelt in ihrer unmittelbaren Brutalität aber eine Intensität, die an die Nieren geht.

Regisseurin Christiane Balthasar hat alle Folgen der ZDF-Reihe "Kommissarin Heller" inszeniert und dort regelmäßig bewiesen, wie vortrefflich sie ihr Handwerk versteht. Auch hier sorgt das Zusammenspiel von Kamera, Schnitt und einer Musik, die oft mehr Geräusch als Klangfolge ist, nicht nur für eine moderne Anmutung, sondern auch für eine dichte Atmosphäre und immer wieder für hintergründige Spannung. Interessanterweise inszeniert sie die finale Konfrontation zwischen Siedler und dem Mann, der sich an Kathrin vergangen hat, beinahe beiläufig, obwohl sie für den Psychiater fast tödlich endet. Ansonsten ist der optische Aufwand bemerkenswert, es gibt für einen Fernsehfilm auffällig viele unterschiedliche Bildmotive; Balthasar und ihr bevorzugter Kameramann Hannes Hubach, mit dem sie unter anderem auch "Der Wagner-Clan - Eine Familiengeschichte" gedreht hat, erfreuen immer wieder mit sorgfältig gestalteten, teilweise geradezu komponierten Einstellungen.

Natürlich ist "Der Gutachter – Ein Mord zuviel" ein Krimi, aber Siedler ist kein Kommissar mit anderen Mitteln. Er möchte vor allem verstehen, was in seinen Patienten vorgeht. Im Vordergrund des Films steht ohnehin nicht der Nervenkitzel, sondern die Frage, ob Knecht tatsächlich rückfällig und zum Mörder geworden ist, was Siedler bezweifelt. Von der Antwort hängt nicht zuletzt sein Renommee ab, immerhin gilt er in seiner Klinik als designierter Chefarzt. In diesem Zusammenhang sind auch die Nebenfiguren interessant: Hanns Zischler hat zwar nur wenige, aber gewohnt markante Auftritte als Siedlers Chef und Mentor; Sesede Terziyan spielt die ermittelnde Kommissarin, bei der zunächst nicht klar ist, ob sie ebenfalls auf Siedlers Seite ist, bis er am Schluss überrascht feststellt, dass sie an das Gute im Menschen glaubt. Gerade diese beiden Rollen hätten gemeinsam mit der Hauptfigur ein interessantes Reihen-Ensemble abgeben, aber das ZDF hat nach der Erstausstrahlung des Films (2017) keine Fortsetzungen drehen lassen.